Cruzifixus
Antlitz des Erlösers schien ihm Mut zu machen, den ersten Schritt zu tun und seinen eigenen Weg zu beschreiten. Für einen Moment stand er einfach nur da, der Zeit entrückt. Irritiert bemerkte er, dass sich der Gesichtsausdruck des Gegeißelten verändert, sich aufgehellt hatte. Ja, Jesus schien ihm amüsiert zuzuwinkern. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Es geschahen wahrlich noch Zeichen und Wunder. Als er durch die Doppeltür ins Freie treten wollte, stieß er fast mit einen dickleibigen, südländisch aussehenden Mönch, zusammen. Der Mönch hob zwei Finger seiner Linken zum brüderlichen Gruß:
„Padre Pio, wollt ihr uns etwa verlassen? Marana Tha!“
Ohne Vorwarnung stach er mit der Rechten hart und erbarmungslos zu. Pio spürte einen Stich in der Brust, spürte wie der kalte Stahl des Dolchs von unten in seine Herzgrube drang. Etwas in seinem Unterbewussten sagte ihm, dass der Kerl sein Mordhandwerk verstand, er würde sich vom Instinkt gesteuert noch ein paar Sekunden auf den Beinen halten, ehe er umkippte. Auf den ersten Blick würde es so aussehen, als ob der alte Herr einen Schwächeanfall erlitten hatte. Derweil konnte sich der Assassine in aller Ruhe davonmachen. Pio taumelte, um ihn wurde es schwarz und schwärzer. Aus weiter Ferne hörte er eine ätherische Stimme rufen:
„Vieni qua, assassina! Questa storia e’ finita! Io sono vicino a te!“
Der Himmel war voller Wunder und die Erde voller Geschichten.
Die Iden des März
Vitam impendere vero! Sein Leben der Wahrheit weihen!
Aus den HiFi-Boxen schluchzte der tremolierende, von Weinkrämpfen geschüttelte Sangeskünstler:
„Parti, partiro. It’s time to say Goodbye!“
Wahrlich die Abschiede häuften sich in letzter Zeit – vor allem unter den geistlichen Herrn: zuerst Dechant Dirrigl, dann Pater Ägidius und jetzt seine Hochwürden Archidiakon Ignatius Irenäus Niederstrasser. Konnte das geballte Auftreten unerwarteter und plötzlicher Todesfälle unter den Klerikern des Virgilswinkler Landes ein Zufall sein? Simon war sich sicher die Antwort zu kennen: Nein! Er konnte nicht behaupten, dass ihm der Tod der Drei nahe ging, ihn in Tränen ausbrechen ließ. Er empfand nichts, nicht einmal ein leises Gefühl des Bedauerns. Simon parkte seine Karre auf dem Besucherparkplatz der Abtei und hastete mit wehenden Rockschößen in Richtung Friedhof. Der Trauerzug näherte sich bereits dem frisch ausgehobenen Grab auf dem „Mönchsacker“. Der Kirchenfürst wurde wie ein Heiliger mit allem Pomp zu Grabe getragen. Dem schweren Eichensarg folgten Abt Placidus, eine Schar von Schwarzröcken und dahinter der Rattenschwanz der „Laien“. Aus einer instinktiven Regung heraus schlug Simon das Kreuz über die Brust. Seine Eminenz war gewiss kein „Heiliger“ gewesen, einer dessen morsche Knochen auf verblichenem Brokatkissen ruhen würden. Niederstrasser war eher so etwas wie ein Monarch oder ein Patriarch gewesen, eine charismatische Führerpersönlichkeit, dem man die ihm gebührende, letzte Ehre erwies. Die vier Leichenträger stöhnten unter der Last des prunkvollen Sarkophags in De-Luxe-Ausführung. Ob Niederstrasser seine eigene Beerdigung „miterlebte“, quasi über ihren Köpfen schwebte? Einige renommierte, christliche Glaubenstheologen waren zumindest der Ansicht, dass die Seele noch einige Tage in der Nähe verweilte, ehe sich ihr geistiges Fluidum endgültig vom Leib löste. Die Trauerfeier zu Ehren des „Primas“ war ein gesellschaftliches Großereignis, dass Gläubige wie Schaulustige zu Hunderten auf den Klosterfriedhof der Abtei Hohenhaslach pilgern ließ. Petrus, der „oberste Chef“ des Verstorbenen, hatte anlässlich der Beerdigung Kaiserwetter dekretiert: die Sonne strahlte vom weiß-blauen Postkartenhimmel, ein laues Lüftchen bauschte die bunten Fähnchen der in Korpsstärke angetreten Marien- und Rosenkranzbruderschaften, der Kreuzritter in Zivil, der Brauchtumsvereine, der Gemeindedelegationen, der Waldbauern- und Fleckviehzüchtervereinigungen. Kurzum, es war alles angetreten, was im Umkreis von 50 Kilometern Rang und Namen hatte.
Mit leichtem Einsatz der Ellenbogen drängelte sich Simon durch die Menge und steuerte auf das kleine Grüppchen der Medienvertreter zu. Mittendrin stand Vroni – im figurbetonten, kessen Hostessenkostüm und den dazu passenden hohen
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