Cruzifixus
Goldmuskateller ein langes Gespräch mit ihm über die apokalyptischen und messianischen Unterströmungen im heutigen Christentum geführt und war auf die Doktrin des „verrückten Fraters“ – die Verherrlichung des Armutsideals und der radikalen Ablehnung von Erwerbsstreben und Wohlleben - zu sprechen gekommen. Pfleiderer hatte die Überspanntheiten und Verrücktheiten des „Alten vom Berg“ in einen religionshistorischen Kontext gestellt:
„Endzeitprediger, die in einer schmutzigen, fellbraunen Kutte durchs Land zogen hat es immer und nicht nur im Mittelalter gegeben. Ihnen gilt die Vision als das Höchste der göttlichen Gefühle. Eine Sünde bleibt ohne den jähen Durchbruch der göttlichen Gnade ungesühnt. Denn alles Heil kommt von der Schau Gott. Ihre fiebrigen Fanatikeraugen peilen stets höhere Ziele an.“
Er hatte Pfleiderer reden lassen und eifrig mit stenographiert:
„Erweckungsprediger wie Pater Ägid sehen den Menschen als Gefangenen in einem archaischen Drama von Schuld und Sühne. Zwischen den biblischen Zeilen steckt ein zweiter, tieferer Sinn, so etwas wie eine mythologische Metaebene. Eine theologische Textur von ungeheurer psychologischer Dichte. Der Text der Bibel wird so zur Paraphrase eines messianisch eingefärbten Mystizismus. Da ist alles drin: das Gute und das Böse, das gleißende Licht elysischer Gefilde wie das flammende Inferno. Entscheidend ist das Bekenntnis: Credo quia absurdum est! Im Endeffekt geht es allen Eiferern darum, das naturgegebene Gleichgewicht der Gegensätze wie es der Buddhismus lehrt, zu negieren, zu transzendieren.“
Simon hatte mit runden Augen aufmerksam gelauscht:
„Ein Prophet hört im Zustand des Entrücktseins Stimmen, die ihm einen Auftrag erteilen. Die kompromisslose Hingabe, dass Außer sich sein legitimiert ihn in den Augen der Gläubigen als Mann Gottes. Die Frage sei jedoch erlaubt, welche Stimmen er hört – die der Engel oder die der Teufel. Wie leicht verwandelt sich Gottesfurcht in Verfolgungswahn, Glaubensfestigkeit in Intoleranz. Jeder „Heilige“ läuft daher Gefahr die Geschäfte Satans zu besorgen. Das die „Auserwählten“ in Sphären schweben, die normal Sterblichen verschlossen bleiben, sollte uns eher misstrauisch stimmen denn gläubig!“
Der Abend hatte damit geendet, dass Pfleiderer ein paar erlesene Kostbarkeiten aus seinem Weinkeller geholt und sie beim dritten oder vierten Schoppen Chateauneuf du Pape Brüderschaft getrunken hatten. Unter Brüdern waren Sie sich schnell einig geworden: Die Freiheit war der Feind des Fundamentalismus. Das Okkulte, Mystische, Obskurantistische war hingegen der Humus auf dem der religiöse Fanatismus gedieh.
Der letzte Akt der groß inszenierten Begräbnis-Show begann mit Pauken und Trompeten. Die Blasmusikkapelle Raufham stimmte einen schwermütigen Trauermarsch an. Auf Blech und Holz bliesen die Musikanten Trübsal. Inmitten der Trauer und tiefe Anteilnahme heuchelnden Festgemeinde fühlte sich Simon wie ein Fremdkörper. Es war alles gesagt, alles geschrieben und doch hatte er das Gefühl nicht zum Nukleus der Geschichte vorgedrungen zu sein. Viele Fragen waren offen. Weshalb war Frater Ägid in aller Stille im engsten Kreis der Familie beigesetzt worden? Keiner seiner Amtsbrüder, keiner seiner vermeintlichen Jünger und Parteigänger, kein einziger Waldbruder oder Kreuzritter hatte sich bei der Beerdigung blicken lassen. Vinzenz und seine alte Tante waren mit steinernen Mienen allein am Grab gestanden. Außer Ewald und Sebald, ein paar unentwegten Hutzelweibern sowie einigen rauschebärtigen Alp-Öhis war niemand gekommen, um Abschied vom „Propheten der Armut“ zu nehmen. Wieso, wenn er doch angeblich eine solch bedeutsame Rolle in der Untergrund-Kirche gespielt hatte? War es da nicht logisch anzunehmen, dass Frater Ägid nur ein unbedeutender Phantast gewesen war und jemand anders die Regieanweisungen gegeben hatte? Die pompöse Trauerfeier zu Ehren des Archidiakons stand im krassen Kontrast zu der schlichten, ja ärmlichen des Einsiedlers. War Niederstrasser wie er bereits vermutet hatte die graue Eminenz, der böse Geist im Hintergrund? Hatte er die Fäden gezogen, hatte er Paintinger und Dirrigl auf dem Gewissen? Der streng orthodoxe Kreis um Niederstrasser unterhielt jedenfalls beste Beziehungen zum erzbischöflichen Ordinariat, ja
Weitere Kostenlose Bücher