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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Gefühl in seinem Bauch wirkte das monotone Prasseln des Regens wie ein natürliches Sedativum. Gähnend wickelte er sich in die fusselige Wolldecke. Seine Augen fielen ihm zu, seine Gedanken jedoch bekamen Flügel, erhoben sich über die Erdenschwere, um zum endlosen Blau jenseits der Wolken durchzustoßen. Er überließ sich den schwerelosen Dämmer zwischen Wachheit und Halbschlaf. In seinen Wachträumen tauchten wachsbleiche Schemen auf, wisperte und tuschelte ein Geisterchor, wühlte sich die greinende Stimme des Kaplans aus den Sedimentablagerungen am Grunde tiefschwarzer Seelenseen:
                „Bimmel, bammel, Schaf und Hammel! Bimmel, bemmel, Wurst und Semmel! Bammel, bimmel, Herr im Himmel!“
                Ein welkes Lächeln schwand auf seinen Lippen. Rosmiller lag falsch: der Himmel war leer und auf Erden war jeder sein eigner Herr!
     
    Hinter halbgeschlossenen Reptilien-Lidern beschrieben seine Augäpfel eine Kreisbahn. Seine Blicke richteten sich unverwandt auf den Waldsaum, suchten im dicht belaubten Geäst nach verräterischen Spuren, nach umgeknickten Zweigen oder Ästen, die auf die Anwesenheit einer Rehsippe, einer Wildsaurotte oder einer Fuchsfamilie hinwiesen. Paintinger spitzte die Ohren, horchte in den Wald hinein. Doch die Wälder schwiegen. Der Regen verwischte, verschleierte jedes Geräusch. Paintinger saß mit auf der Brust ruhendem Kopf und über dem Schmerbauch verschränkten Händen da wie ein meditierender Mönch. Um ihn herum war alles friedvoll und ruhig, so als ob die Welt gespannt den Atem anhielt. Da hörte er das Laub rascheln, etwas durchs Gebüsch huschen. Auf den Schlag war er hellwach. Geräuschlos brachte er seinen Stutzen in Anschlag, kniff die Augen zusammen und linste mit Luchsaugen durchs Zielfernrohr. Sträucher und Stauden begrenzten sein Sichtfeld. Nur undeutlich hob sich eine geisterhafte Silhouette vom Hintergrund der Bäume ab. Sein ausgeprägter Instinkt für Gefahr, ließ den Menschen seit Vorzeiten den Schatten Konsistenz geben und in der dunklen Unförmigkeit amorpher Gestalten den bedrohlichen Umriss eines Raubtiers zu sehen. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Der Schattenriss war im Dunkel des Dickichts nicht mehr auszumachen. Sollte er abdrücken und einen Schuss ins Blaue riskieren? Die Aussicht einen Treffer zu landen waren minimal und das Wild würde gewarnt sein. Ohne sichtliche Gefühlsregung senkte er den Lauf und legte das Gewehr über den Schoß. Mit steinerner Miene starrte er ins Schiefergrau der über den Waldwipfeln dräuenden Wolken. An Tagen wie diesen schien alles in eine Art Agonie zu verfallen, schien die Zeit in Blei gegossen. Mechanisch zerkaute er einen Brotbrocken, spürte wie der trockene Mehlklumpen den Speichelfluss in seinem Mund anregte. Um das Warten besser ertragen zu können, war es notwendig die Systemleistung des Hirns auf ein Mindestmaß zu reduzieren und alle Energie den Sinnesorganen zufließen zu lassen, ganz Ohr, ganz Auge zu werden. Er wickelte sich in die Wolldecke und versank in einem Strudel wirr, wirbelnder Gedanken. Die verwachsenen Krüppelbirken wuchsen sich in seiner Phantasie zu grotesken Baummonstren aus, der Fichtenfilz mutierte zu einem finsteren, undurchdringlichen Urwald, zu einer grünen Hölle, die ihn mit Haut und Haar zu verschlingen drohte. Aus den sich schlangenartig windenden Geäst ertönte der schaurig, schöne Ruf eines Käuzchens.
                Das Geräusch knickender Zweige riss ihn aus dem Halbdämmer. Er spähte zum Erlenbruch hinüber und rieb sich verwundert die Augen: eine braun, beige gescheckte Rehkuh trabte mit zwei rotweißgestreiften Sprösslingen auf die Lichtung, schaute nach links, schaute nach rechts und begann auf der Moorwiese in aller Seelenruhe zu äsen. Der Schuss würde ein Kinderspiel werden. Er hatte den schlanken, grazilen Kopf des Muttertiers im Visier. Ein Druck des Zeigefingers – und  die beiden Jungtiere wurden zu Waisenknaben. Da hob das Reh den Kopf, als wittere es etwas. Vielleicht einen ihm unbekannten, aromatischen Duft, der das scheue Reh vom gelobten Land der grünenden Auen und blühenden Wiesen träumen ließ. Paintinger zögerte, kratzte sich an der Schläfe. Im Geiste sah er wie das Stahlmantelprojektil durch den Lauf gepresst wurde und Sekundenbruchteile später die Schädeldecke des Rehs zertrümmerte. Seine Knie, sein Herz wurden weich. Mit sich uneins setzte er den Stutzen ab, strich sich durch den

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