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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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struppigen, grau melierten Wildererbart. Woher kamen auf einmal diese quälenden Gewissensbisse? Waren das die Vorzeichen, dass er zum rührseligen Tattergreis wurde, der blöd grinsend im Rollstuhl hockte. Der Reh-Clan machte sich mit sichtlichem Appetit über die grünenden Knospen der Schösslinge her. Die Wildtiere schienen den Mann auf den Jägerstand nicht bemerkt zu haben. In Paintingers Bauch ballten sich Wut und Niedergeschlagenheit zu einem schwarzen Klumpen. Der Zorn ließ seine Schläfenadern anschwellen, bis sie mit Luft vollgepumpten Gummischläuchen glichen:
                „Schieß doch! Bist du ein Jäger oder eine sabbernde Memme?“
                Er überwand den Moment innerer Schwäche und drückte ab. Das Geschoss durchschlug die dünnwandige Membran aus Fell und Fleisch. Das Reh fiel wie vom Blitz getroffen um - ein schneller, gnädiger Tod. Paintinger saß mit seltsam unbeteiligter Miene auf seinem „Richtstuhl“. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Pulle, glotzte mit stieren, glasigen Blick auf die beiden Rehkitze hinab, die den reglos am Boden hingestreckten Körper der Mutter beschnupperten. Er spürte eine eigenartige Gefühlsmixtur aus Verdruss und Abscheu in sich aufsteigen, hatte einen widerwärtig, faden Geschmack im Mund, hatte das Bedürfnis von hier zu verschwinden und das Geschehene zu vergessen. Warum machte er sich überhaupt Gedanken? Was war nur los mit ihm, weshalb verspürte er keinerlei Freude oder zumindest Befriedigung über den gelungenen Blattschuss?
                Er schloss die Augen, wollte weder hören noch sehen, was um ihn herum vorging. Er tastete nach dem silbernen Amulett auf seiner Brust, umklammerte es wie einen Rettungsring. Das Amulett hatte ihm Gustl nach seinem Tod vermacht. Die Silberkapsel umschloss einen Chrysopras, der nach Bekunden Gustls die Kraft besaß, den bösen Blick abzuwehren und ihn vor den Zauberkünsten der Schwarzmagier zu beschützen. Sein Patenonkel war mit zunehmendem Alter immer wunderlicher, verschrobener und schicksalsgläubiger geworden. Ein kauziger, gegen den Judengott wetternder Sonderling, der seine grauen Zellen in Alkohol konservierte und überall Gespenster und weiße Mäuse sah. Sein Intellekt sagte ihm, dass die Träger von Talismanen, Idolen und Amuletten einem gefährlichen Wahn anhingen. Jeder Glaube, auch der Aberglaube beruhte auf Einbildungen, auf falschen Hoffnungen, auf Chimären und Wunschvorstellungen. Dennoch hielt er sich ein Hintertürchen in die Geisterwelt offen. Man wusste ja nie!
     
    Der Regen prasselte unaufhörlich auf das mit Teerpappe isolierte Dach des Ansitzes. Das tote Reh lag da wie ein auf dem Altar der keltischen Flur- und Feldgötter dargebrachtes Opfer. Der aasige Geruch des Todes hatte die beiden Jungtiere vertrieben. Paintinger blickte auf seine chromblitzende Armbanduhr. Der Chronometer war ein Präsent von Major Brandon. Seit über 50 Jahren zeigte das Military-Modell von Tissot die Zeit mit der Präzision eines eidgenössischen Uhrwerks. Nicht nur am Handgelenk, auch in den Zellen seines Körpers tickte jedoch eine, wenn auch innere Uhr. Die Zeit lief ihm davon, zerrann ihm wie Sand zwischen den Fingern. Kronos, der Herr der Zeit, war ein grimmiger, unerbittlicher Herr. Zeit mochte in den Augen der Physiker relativ, eine temporäre Erscheinung, eine variable Konstante sein, für ihn ähnelte die Zeit eher einer weiten, von Licht durchfluteten Halle, die über die Jahre zu einem engen, finsteren Kerkerverlies wurde. Stöhnend rappelte er sich auf:
                „Viertel nach Elf! Wieso läuft einen die Zeit immer weg!“
                Um drei Uhr hatte er einen Termin in der Kanzlei Moosgruber & Partner. Es war Zeit sein Testament den letzten Schliff zu geben und Bilanz zu ziehen. Sein Cholesterinspiegel bewegte sich seit Jahr und Tag auf schwindelnden Höhen. Er litt an adipöser Hypertonie und den daraus resultierenden Folgeerkrankungen, wie das in der verklausulierten Lingua franca der Medizin so schön hieß. EKG, EMG und EEG oszillierten zwischen Himmel und Hölle und seine Leberwerte waren derart desaströs, dass die Doktoren Zweifel hegten, ob die Messergebnisse des Labors korrekt waren. Nein, er hatte maximal noch zwei, drei Jahre, dann war Schluss. Alles hatte ein Ende, nur die Blutwurst zwei.
                Es war nur schade, dass er bei der Testamentseröffnung nicht dabei sein konnte, um sich an den bestürzten,

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