Cruzifixus
sagen?“
Simon nickte beipflichtend. Brandl setzte eine rhetorische Kunstpause, um seinem Spruch mehr Gewicht zu verleihen:
„Zu meiner Frau sag ich immer: Moni, wenn es dich mag, mag es dich. Da kannst nix machen!“
Simon strich sich über die Nasenspitze, so als ob ihm der bedeutungsschwere Satz zu denken gebe:
„Und weiß man schon etwas über die Opfer. Um wen handelt es sich? Befinden sich Familien, Kinder darunter?“
Brandl zuckte resigniert die Achseln, um sich dann doch rechtschaffen zu echauffieren:
„Schwer zu sagen! Da ist teilweise nicht mehr viel übrig! Wissen Sie, die Leute heute nehmen keine Rücksicht mehr. Man meint grad, dass Sie es gar nicht erwarten können, in den Himmel respektive in die Hölle zu kommen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss zurück zu meinen Zug!“
Der Feuerwehrhauptmann salutierte wie in der guten, alten Zeit und verschwand hinter einem der Löschzüge.
Nachdenklich geworden stapfte Simon die Leitplanke entlang. In solchen Momenten bereute er seine Entscheidung mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Wie brüchig, wie fragil war dieses Gefäß aus Fleisch und Knochen? Wie schmal der Grat zwischen Sein und Nichtsein? Simon starrte hinauf zu den Sternen. Wer wusste schon was ihn dort droben erwartete.
Die Ferse des Achilles
Nam tua res agitur, peries cum proximas ardet! Brennt es beim Nachbarn lichterloh, droht auch dir Gefahr !
Die Feuerwehren hätten sich ihren Großeinsatz sparen können. Die Wetterbesserung war nur von kurzer Dauer gewesen. Von Westen rollten unablässig neue Wolkenwellen heran, brandeten wild schäumend gegen die empor ragenden Felsklippen der Virgilswinkler Berge. Es goss wie aus Gießkannen und schüttete wie aus durchsiebten Kübeln. Simon fluchte wie ein über die unziemlichen Gehaltsforderungen seiner Haus- und Hofdomestiken erzürnter Mist- und Mostmagnat:
„So ein Dreckswetter, so ein Miserables!“
Er huschte in einen Tordurchgang. Argwöhnisch beäugte er die am graumelierten Nachthimmel wogenden Wolken. In den untersten Schichten der Atmosphäre brodelte es wie im Hexenkessel eines irrsinnig gewordenen Alchemisten. Simon stieß sich von dem Torpfeiler ab, spurtete wie ein mit Doping-Präparaten vollgepumpter Sprintstar los. Nach fünfzig Metern ging ihm die Puste aus und er verfiel in eine Art Schweinsgalopp. Keuchend und hechelnd erreichte er die gegenüberliegende Seite des Marktplatzes, setzte mit einem kühnen Sprung über den Sturzbach, der sich am Rand des abschüssigen Kopfsteinpflasters gebildet hatte. Leise vor sich hin fluchend flüchtete er sich unter die Kuppelgewölbe der in Renaissance-Reminiszenzen schwelgenden Rathausloggia:
„Ze fix. So ein Scheißtag! Nur Stress, nix als Ärger!“
Simon entstammte einer seit Jahrhunderten im Virgilswinkel ansässigen Bergbauern-Sippe. Seine Vorfahren hatten ein untrügliches Gespür für drohende Wetterumschwünge entwickelt. Von Generation zu Generation waren die Sinne geschärft, die Messinstrumente perfektioniert, die Fähigkeit Schnee oder Regen zu riechen verfeinert worden. Die Wetterfühligkeit lag Simon also in den Genen. Wie ein Barometer registrierte er selbst minimale Veränderungen des Luftdrucks, seine Sensoren zeichneten jede Temperaturschwankung auf. Kurzum: er brauchte keine neunmalklugen Meteorologen, um zu wissen wie das Wetter wurde oder woher der Wind wehte. Es würde noch mehrere Stunden weiterschütten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Simon stemmte sich den um die Mauerecken fegenden Windböen entgegen und bog in eine schmale, zwischen Mauermassen mäandernde Gasse. Schritt für Schritt drang er in ein unüberschaubares Gewirr labyrinthisch verschachtelter Innenhöfe, Sackgässchen und Tordurchfahrten ein. Simon kannte den Weg. Dies hier war sein Revier. Unaufhaltsam näherte er sich dem Ziel seiner nächtlichen Odyssee: weiß, blaue Lichtgirlanden umflochten einen von marmorweißen Doppelsäulchen gerahmten Portikus. Im Giebelfeld desselbigen prangte in blauer Neonleuchtschrift der verheißungsvolle Name: „Taverna Ithaka“.
Mit der furchtlosen Miene eines spartanischen Hopliten stieg Simon in den Tartaros hinab, betrat mit
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