Cruzifixus
„Pie Jesu, Domine, dona eis requiem. Pie Jesu, Domine, dona eis requiem sempiternam.“
Der uralte Text des Totenoffiziums erinnerte Simon daran, dass Jesus auch der Seelenführer war, der die Verstorbenen dem Rachen des brüllenden Löwen entriss und gen Himmel geleitete. Der Heiland war schließlich selbst in den Hades hinab gestiegen, um die Seelen der Propheten, der Gerechten und Gesetzestreuen aus der Vorhölle, dem Limbus patrum zu holen und ins Himmelreich zu führen. Die Stimmen schwollen wie eine Flutwalle an, flehten in hysterischer Ekstase:
„Libera Me, Domine, de morte aeterna in die illa tremenda; quando coeli movendi sunt et terra; dum veneris judicare saeculum per ignem.”
Simon stakste auf Stelzenbeinen durch labyrinthische Gedankengeflechte, verwarf seine ursprüngliche Verschwörungstheorie:
„Jesus ist der Weltenrichter, der am jüngsten Tag in letzter Instanz das Urteil über die Lebenden und Toten zu fällen hat. Er und der Teufel ringen um jede Seele. Musste er deswegen sterben - um den Tod zu schmecken?“
Simon kratzte sich am Kopf:
„Wozu dann die Rückkehr Jesu auf Erden?“
Die Lichter abgelegener Einödhöfe schimmerten zwischen dicht bewaldeten Hügelkuppen. Von der Anhöhe aus, öffnete sich der Blick auf das Lichtermeer rund um den Chiemsee.
Je mehr er sich mit der Jesus-Materie beschäftigte, desto verlockender erschien ihm die Beschäftigung mit der biblischen Geschichte. Der Nazarener war eine faszinierende, schillernde, ambivalente Gestalt. Wer konnte schon von sich behaupten, dass in seinen Namen gemordet und gebettelt, geboren und gestorben, geliebt und gehasst wurde? Die Idealfigur eines Übermenschen, die zu schön war, um wahr zu sein. War der Mensch aus Fleisch und Blut deswegen so ungreifbar, so unbegreiflich weil es ihn nie gegeben hatte? War Christus ein von christlichen Legendenschreibern ersonnenes Phantasieprodukt, eine Kreuzung aus jüdischem Propheten und heidnischen Helden? Eine berauschende Mixtur aus David und Dionysos, Elias und Herakles bar jeder Historizität? Bestand das Kerygma Christi aus einem Kondensat antiker Mysterienkulte und östlicher Weisheitslehren? Und die Erzählung der Evangelisten? Ein Theaterstück inklusive tragischem Showdown? Ein verwickeltes Psychodrama über Vater und dem verloren, an seiner Mission zweifelnden Sohn, der vergeblich nach dem Übervater schrie: Eli, Eli, lama sabachthani?“
Simon kannte die Salzburger Autobahn wie seine Westentasche. Rechterhand erstreckte sich der See, linkerhand das Fernauer Filz. Vor ihm verengte sich die Fahrbahn. Die Sanierungsarbeiten am Ödbach-Viadukt zogen sich schon seit über einen halben Jahr hin. Heute war indes etwas anders. Der über den Moorwiesen wabernde Nebel schimmerte rötlich. Instinktiv reduzierte Simon seine Geschwindigkeit. Trotzdem erschrak er, als er das höllische Inferno vor ihm gewahrte. Die Fahrbahn stand in Flammen, eine rußig, rote Feuersäule hob sich gespenstisch vom tiefschwarzen Himmel ab. Der Jesus-Film riss abrupt. Die Schaltzentrale gab Alarm, jagte einen Stromstoß durchs Netz der Neuronen. Panikartig haute er den Stempel rein. Unsanft wurde er in den Gurt gepresst. Simon hatte ein Déjà-Vu, hatte das Gefühl, dass gleiche schon einmal erlebt zu haben. Nach einer Schrecksekunde gewann der logische Verstand und mit ihm das klare Denken die Oberhand. Er war noch mindestens 500 Meter von der Unfallstelle entfernt. Vor ihm stauten sich bereits einige Fahrzeuge. Simon lenkte das Auto auf den Pannenstreifen und rollte in die Zufahrt des wie gerufen kommenden Rastplatzes. Quietschend kam seine Rostlaube zum stehen. Mit schlotternden Knien stieg er aus:
„So was! Das gibt’s doch gar nicht. Mein Schutzengel fährt heut wohl eine Sonderschicht.“
Simon überlegte ob er nicht einfach die Biege machen und von hier verschwinden sollte. Schließlich hatte er frei. Aber wie hieß es so schön: Polizisten und Journalisten sind immer im Dienst. Seufzend steckte er sein Diktiergerät ein und machte sich auf den Weg. Dunstige Nebelschleier lagen wie ein Leintuch über der von Abzugsgräben durchzogenen Filzfläche. Mit Blaulicht und Martinshorn kamen immer neue Polizei- und Einsatzwägen herangebraust. Die angerückten Feuerwehren waren bereits mit Löscharbeiten beschäftigt.
Weitere Kostenlose Bücher