Cruzifixus
Maitre an ihren Tisch. Panos granitenes Griesgramgesicht hellte sich auf, sein öliges, listiges Lächeln ließ ihn wie die Karikatur eines hintertriebenen Basarhändlers aussehen:
„Kalispera! Was darf ich euch bringen? Ich habe heute Brasse, Barbunia und Seezunge im Angebot!“
Ungeniert schielte der alte Blaubart in Vronis Dekolleté. Beim Anblick der weiblichen Wölbungen lief ihm der Sabber im Mund zusammen. Unter den Achseln seines buntscheckigen Nylonhemds bildeten sich dunkle Schweißflecken, denen ein säuerlicher, ranziger Duft entströmte:
„Mein Neffe Nikos arbeitet in Großmarkthalle. Importiert Fisch direkt: Muscheln, Langusten, Garnelen! Alles frisch aus Ägäis, müsst ihr probieren!“
Simon ließ den abgetakelten Raubfischer sabbern und labern. Ein Platzhirsch musste eben sein Revier markieren. Vroni wusste sich in Szene zu setzen, wusste ihre weiblichen Waffen einzusetzen, um die Männer um den Finger zu wickeln. Ihr Augenaufschlag verriet, dass sie sich über die amourösen Avancen des schmierigen, triefäugigen Bouzouki-Beaus köstlich amüsierte:
„Das klingt gut! Ich nehme den Garnelenspieß vom Lavagrill und als Vorspeise für uns beide, eine mikra pikilia!“
Objektiv betrachtet, ließ sich Vroni nur schwerlich als „Schönheit“ bezeichnen. Ihre Figur, ihre Physiognomie, ihre Proportionen entsprachen keineswegs dem klassischen, ästhetischen Ideal: O-Beine, eine zu breite Taille, der Busen zu üppig, die Nase zu spitz, das Kinn zu knochig und kantig. Mann war jedoch schnell geneigt über kleinere Schönheitsmängel hinwegzusehen. Ihre Art zu sprechen, ihre Art sich zu bewegen, ihr Blick halb Kobra, halb Koala ließ das Blut in Wallung geraten. Ihre rötlich schimmernde Lockenpracht, das geheimnisvolle Feuer ihrer Aquamarinaugen, der makellosen Teint ihrer glatten Haut ließ einen von einer heißen Nacht auf roter Seide träumen. Eine kühle, spröde und doch sinnliche Schönheit. Furie und Femme fatale in einer Person.
Simon verzog keine Miene, enthielt sich jeglichen anzüglichen Kommentars. Um bei Vroni zu punkten, musste man mehr zu bieten haben, als den zweifelhaften Charme eines lüsternen Moussaka-Molchs, dessen ranker, schlanker Alabasterleib sich im Zuge eines unaufhaltsamen Degenerationsprozesses in einen unförmigen Fleisch- und Fettkloß verwandelt hatte. Mann brauchte andere Qualitäten wie Humor, Zartgefühl und eine maskuline Ader, um im Labyrinth der Liebe zum Ziel zu gelangen:
„Die Ithaka-Pfanne und einen Krug Retsina!“
Panos lächelte treuherzig wie ein knopfäugiger Plüschpanda:
„Eine Retsina! Bringe ich euch!“
Simon fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger, der an einer unbekannten Küste gestrandet war. Verstehe einer die Frauen! Wieso rückte Sie nicht mit der Sprache heraus? Er hatte mehrmals versucht mehr über den Mord in Erfahrung zu bringen, hatte nachgehakt, hatte sein nachdrückliches Interesse an dem Fall bekundet. Vroni hatte indes ihren eigenen Dickkopf. Sie ließ ihn zappeln, ließ ihn wie einen Papagei plappern. Sie hielt ihren Kopf in die Hände gestützt und schien ganz gebannt seinen langatmigen, episch breiten Ausführungen zu lauschen:
„Im Anfang war das Christentum nichts weiter als eine radikale Splittergruppe, eine Bande chileastischer Sektierer, die händeringend auf das Ende der Welt warteten. In den Augen der Mainstream-Pharisäer war Jesus kein Heilsbringer, sondern ein Abweichler und Umstürzler. Ein Rädelsführer, der gegen das jüdische Etablissement gehetzt und ein unrühmliches Ende gefunden hatte. Die ersten Christen einte das Gefühl zum kleinen aber feinen Kreis der Auserwählten zu gehören. Ein elitärer, sich von den anderen Juden abschottender Haufen. Mit ihrer apokalyptischen Attitüde und ihrem messianischen Mantra machten sich Petrus und Paulus nicht überall beliebt. Was a priori jedoch nicht impliziert…“
Ihr Erzengelblick ließ ihn verstummen:
„Jetzt mal Stopp! Wie lange schreibst du jetzt? 20 Jahre? Wie gehst du vor, wenn du eine Geschichte erzählst? Du baust erst mal ein Gerüst. Dann legst du dir die passende Strategie zu Recht und arbeitest einen klar strukturierten Plot aus. D’
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