Cruzifixus
Simon nahm den verlorenen Gedankenfaden wieder auf:
„Der Blickwinkel der Kamera ist der eines Voyeurs, der Jesus Leidensweg verfolgt. Wir blicken in sein von Schmerz und Pein zerquältes Gesicht. Sehen jeden Schweiß-, jeden Blutstropfen, der ihm über die Stirn rinnt. Jesus sieht uns nicht, sieht niemand. Seine großen, schwarzen Augen sind blutunterlaufen. Der entrückte Blick ist nach innen gerichtet. Sein Mund gleicht einer rot klaffenden Wunde. Er bringt kaum ein Wort über die Lippen und murmelt ein Gebet. Wir können nur vermuten, dass er den Vater im Himmel anfleht: vergib ihnen ihre Schuld!“
Was weiter? Simon blies die Backen auf:
„Szenenwechsel. Irgendwo im Ghetto. Ein SS-Trupp umringt einen greisen, weißbärtigen Juden. Sie verspotten, verprügeln ihn, reißen ihm den zerflickten Mantel vom Leib! Die Unholde dreschen so lange auf den wehrlosen Alten ein, bis er reglos im Rinnstein liegen bleibt. Da trifft ein Lichtstrahl sein Gesicht und inmitten einer hell leuchtenden Aureole tritt Jesus vor ihm hin und spricht: Fürchte dich nicht!“
Unwillig schüttelte er den Kopf. Das war zu kitschig, zu rührselig, zu klischeehaft. Der tragödische Theatercoup des „Deus ex Machina“ war hingegen ein schöner Effekt, der nach Affekten gierte und die Gemüter erregte. Das unerwartete Erscheinen der Gottheit auf der irdischen Szene, gab der Geschichte eine dramatische Wendung und eröffnete neue Dimensionen. Simon strich sich über sein stoppelbärtiges Kreativenkinn:
„Jesus ist entschlossen die Geschichte zu verändern, die Legionen Luzifers und Jupiters aus dem Feld zu schlagen. Diesmal will er sich jedoch nicht allein auf die Macht der Liebe verlassen, sondern den Teufel und seine Kreaturen mit ihren eigenen Waffen zu besiegen. Der Sphärenstein in seinem Magierring bündelt die Partikel und Korpuskel des Lichts und verwandelt sie in reine Energie. Doch etwas geht schief.“
Simon begann Gefallen an der Sache zu finden. Ja, er spürte wie in der Übermut packte. Selbst seine alte Karre schien wie beflügelt. Mit über 130 Sachen rauschte er an der im Schneckentempo die Steigung am Achenberg hoch kriechenden Blechkarawane vorbei. Die Sattelschlepper und Tankzüge schienen zu einem nicht enden wollenden Leichenkondukt zu gehören, dazu ausersehen die Stahlskelette ihrer Containersärge zu Grabe zu tragen. Als kleiner Junge hatte er davon geträumt als „Kapitän der Landstrasse“ auf große Fahrt zu gehen, der Enge der Berge zu entfliehen und nach Süden, der Sonne entgegen zu ziehen. Von was hatte Jesus geträumt: von der Freiheit? Von einer besseren Welt, jenseits der Diktatur der Dogmen? Wollte er die Fesseln eines in Formen und Riten erstarrten Glaubens abstreifen - musste er deswegen zum Sendboten Gottes, zum Messias werden?
Das Bach-Präludium orgelte ohrenbetäubend. Wo war das verflixte Klingelding? Simon kramte hektisch im Handschuhfach, stieß auf Schokoriegel und Scheibenkratzer – aber auf kein Handy:
„Kruzifix, wo hab ich das Scheißteil hin?“
Mit halbem Ohr hörte er, dass nach den „Highlights aus Don Giovanni“ das „Requiem“ an der CD-Reihe war. Stimmgewaltig jubilierte der Chor:
„Osanna in excelsis. Benedictus, qui venit in nomine Domini. Osanna in excelsis!“
Endlich brach das penetrante Georgel ab. Simon fluchte wie ein Rohrspatz:
„Wieso passiert das immer nur mir. Wenn das jetzt der Chef war, bin ich der Gearschte!“
In der Redaktion stand er sowieso im Ruf, schwerer erreichbar als der Papst zu sein. Simon ärgerte sich über seine Zerstreutheit, seine Unaufmerksamkeit. Auf seinem Posten durfte man keine Angriffsfläche bieten. In diesem Piranhabecken konnte man niemand vertrauen, musste man stets mit hinterhältigen Attacken rechnen. Als Chef vom Dienst konnte er sich keine Schnitzer, keine groben Fehler und Nachlässigkeiten leisten. Unwillkürlich platzte es aus ihm heraus:
„Ich hab es satt! Dieses Gehetze, dieses dämliche Rumgetue!“
Simon machte eine verächtliche, wegwerfende Handbewegung und trieb im Strom der ineinander verwobenen Harmonien, der vor Expressivität vibrierenden Melodien davon:
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