Cruzifixus
festen Schritten die Höhle des nemäischen Löwen, des kalydonischen und erymanthischen Ebers. In den Wandnischen des Vestibüls thronten zwei, wohl aus dem Schlussverkaufssortiment eines Garten-Centers stammende Statuen: Aphrodite und Apoll hoben ihre Gipshände zum Göttergruß. Das Interieur des Kellerlokals war von ausgesuchter, manierierter Geschmacklosigkeit. Kannelierte Pilaster mit korinthischen Kapitellen trugen einen pseudoantiken mit Triglyphen und Metopen gezierten Fries. An den einstmals weißen, von einer schiefergrauen Ruß- und Schmutzschicht überkrusteten Wänden vergilbten Werbeplakate, die die Schönheiten von Rhodos, Samos und Korfu anpriesen. An einem windschiefen Wandbord hinter der Theke baumelten feurig schimmernde Kupferkännchen.
Der Wirt des „Ithaka“ war ein am Alpenrand gestrandeter Robinson Ouzo. Panos Papazakis war stolz darauf einem Geschlecht knorriger, kauziger Insulaner zu entstammen. Seit undenklichen Zeiten hüteten die Mitglieder des Papazaki-Clans ihre Herden, starrten mit stoischem Gleichmut auf das kobaltblaue Meer hinaus und harrten der Rückkehr ihres Ahnherrn. Panos ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass er ein Nachfahre des Odysseus, jenes listigen Helden der Ilias war. Weder die multinationale, sich aus Bosniaken, Bengalen und Kongolesen rekrutierende Belegschaft, noch seine Stammgäste wagten es, die königliche Abkunft des Bifteki-Bocuse anzuzweifeln. Jedenfalls genoss sein Etablissement unter Gyros-Gourmets und Souvlaki-Sybariten einen legendären Ruf.
Simon hängte sein Regencape an die Garderobe. Der Patron war nirgends zu sehen. An Stelle von Panis begrüßte ihn Costa, der zwischen filterlosen Fluppen und dionysischen Bacchanalen ergraute Chefkellner:
„Já su, Simeon, kalispéra! Ich habe den besten Platz für dich reserviert.“
Wie ein lahmender Leithammel humpelte der Ober vor ihm her, komplimentierte ihn zu einem heimeligen Ecktisch und versicherte ihn mit gebärdenreicher Zeichensprache seiner besonderen Wertschätzung:
„Magst du griechischen Mokka, ena Metaxa?“
Simon strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn:
„Costas, du bist ein Hellseher! Ein Mokka, parakaló! Süß wie die Sünde und schwarz wie die Nacht.“
Costa entblößte eine Reihe bräunlicher Zahnstumpen, von denen klebrige Speichelfädchen herabtropften. Es war der Anflug eines Lächelns, von einem der das Lachen längst verlernt hatte. Die Hände des alten Griechen zitterten im Trester-Tremor. Seine eingefallenen Wangen, die fahl, gelbliche Haut ließen die Dramen im Leben des gescheiterten Retsina-Rebellen erahnen. Sein umflorter Blick verlor sich in der Ferne der im Sonnenlicht glitzernden Wellen. Vor seinen müden, matten Augen flimmerten die Bilder einer vergangenen, goldenen Zeit: in der Mittagshitze flirrende Felder, karge Weiden, marmorweiße Felsbrüche über einer azurblauen Bucht. Archaische Bilder der uralten Sehnsucht nach den elysischen Gefilden Arkadiens. Costa nuschelte etwas in seinen ungepflegten Seehundbart, etwas das entfernt nach Eleftheria - Freiheit - klang. Für einen kurzen, blitzlichtartigen Moment verstand Simon, was dieser in der Fremde gestrandete Argonaut fühlte, was ihn zu Tränen rührte: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, das unstillbare Verlangen nach Freiheit. Das Verlangen die Ketten zu sprengen, die Fesseln eines duckmäuserischen Domestikendaseins abzustreifen und Feuer an die Scheiterhaufen der Eitelkeiten zu legen! Da war jedoch niemand, der seine wahre Seelengröße erkannte. Costa hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Wie ein Ertrinkender an der Schiffsplanke, hielt er sich an der Tischkante fest:
„Entaxi! Süß und extra schwarz! Geht klar!“
Der Kellner deutete eine Verbeugung an und verschwand im Halbdämmer. Simon machte es sich auf den aus bunten Stofffetzen zusammengeflickten Sitzkisschen bequem und angelte nach der zerknitterten, von Eselsohren verunstalteten Speisekarte. Obwohl er die darin angeführten Klassiker der griechischen Küche in- und auswendig kannte, ließ er die nach Retsina und Rembetiko klingenden Gerichte auf der Zunge zergehen:
„Kolokithakia, Kopanisti, Dolmadakia, Giouvetsi, Stifado, Loukoumades, Galaktoboureko!“
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