Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
Vom Netzwerk:
musste er zwangsläufig mit der „Mönchsmode“ gehen. Pio öffnete das Fenster, saugte die frische, kühle Morgenluft ein. Es fiel ihm schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Die unwirklichen, entstofflichten Bilder jener transzendenten Traumsequenz ließen ihn nicht los. War er wirklich im Vorhof des himmlischen Jerusalem gewesen? Es war eine halbe Ewigkeit her, dass er sich mit der mystischen Materie beschäftigt oder auf Dinge wie die visionäre Gottesschau oder die sphärische Levitation auch nur einen Gedanken verschwendet hatte. Damals am Studienkolleg der "Societas Salomonis" hatte er sich in fundamentaltheologische Texte vertieft, über Traktate zur Dogmenlehre gebrütet. Er erinnerte sich dunkel an die Schriften mittelalterlicher Mystiker, die sich in eine meditative Trance versetzt, die den Zustand der „unica mystica“ erreicht und eins mit der Unendlichkeit von En-Sof geworden waren. Gemäß den Lehren von Seuse und Tauler war das Paradies ein Ort, auf den das göttliche Licht, die Aura des Allmächtigen fiel. Hatte er an der Seite des Engels namens Jeliel einen Blick durchs Schlüsselloch der Himmelspforte erhascht? War so etwas möglich? Pragmatisch denkende Geister wie die Gelehrten des Benediktinerordens verneinten die Möglichkeit einer mystischen Gottesschau zu Lebzeiten. Dem Menschen in seiner der Erde verhafteten Sündhaftigkeit sei dies ad infinitum verwehrt. Ihrer Lehre nach müsse das Bestreben des Christen „in generis“ und insbesondere des Mönchs dahingehen, eine Art Eden auf Erden zu schaffen. Kloster bedeutete nichts anderes als „claustrum“ - ein umfriedeter, abgeschlossener Raum der Kontemplation, des Gebets und der Hinwendung zu Gott. So weit die Theorie. Die Praxis des „Paradieses aus Menschenhand“ sah anders aus: hinter der zerbröckelnden Ziegelmauer war im Halbdämmer der Klausurgarten des Klosters zu erkennen: ein verwahrlostes, von Unkraut überwuchertes, von Kehricht- und Komposthaufen verunstaltetes Fleckchen Erde. Ein ironisches Lächeln kräuselte seine schmalen, bläulich angelaufenen Lippen: wenn es auf Erden ein Äquivalent zum Paradiesgarten gab, dann war es die Weite der Wüste, die dem Körper die Nahrung verweigerte, die die Seele brauchte, um einen Blick ins Jenseitige jenes fernen Spiegels zu werfen.
     
    Träumte oder wachte er? Verunsichert blickte er sich in seiner Zelle um. Woher kamen diese Visionen, diese kurzzeitigen, geistigen Aussetzer? Weshalb beschäftigten ihn auf einmal solch unerklärliche, parapsychologische Phänomene wie Telepathie, Telekinese oder Hellsehen? Wieso interessierte er sich plötzlich für übersinnliche Kräfte, okkulte Künste und magische Fähigkeiten. Was versprach er sich davon in antiquarischen Büchern zu stöbern, die von den vier Paradiesströmen, den Baum des Lebens oder den neun Kreisen der Hölle berichteten? Musste man die Berichte der Evangelien als hermetische Allegorie verstehen? Früher hätte er sich nie mit solch lebensfernen, realitätsfremden Phantastereien aufgehalten, für die es keine logische Evidenz eines Beweises gab. In seinem Job waren Praktiker, Pragmatiker gefragt, die in allen Lebenslagen einen kühlen Kopf bewahrten und sich keine fatalen Fehler leisteten. Früher oder später würde er am eigenen Leib erfahren ob es jenseits jener letzten Schwelle noch etwas gab oder ob es zu einer „reductio ad nihilo“ kam, in Folge derer die Seelen zu Schemen schrumpften. Schon Augustinus hatte gepredigt: Die Angst vor dem Tod, vor Siechtum und Pestilenz hatte auch sein Gutes! Die Angst entblößte den Menschen von negativen Charakterzügen wie Eitelkeit, Stolz und Hoffart. Entsetzen, Furcht und Schrecken waren von jeher die besten Verbündeten Roms gewesen. Jahrhunderte lang hatte die katholisch-apostolische Kirche die Angst vor der Hölle geschürt, die Figur des Sensenmanns in gräulichen, düsteren Farben gemalt. Nur wer Tod und Teufel fürchtete, glaubte an Gott und unterwarf sich dem Diktat der Dogmen. Nachdenklich strich sich Pio über die Narben in seinem Gesicht. Alte Wunden, die ihn an die unwägbaren Risiken seines Berufs gemahnten. Er hatte lang genug den Kopf hingehalten, irgendwann war Schluss. Dies war kein Leben mehr für einen alten Mann. Zumal er diesmal einen unverzeihlichen Fehler begangen und den Gegner unterschätzt hatte! Was war es, was ihn in die Scheiße geritten hatte: Hybris, Selbstherrlichkeit oder Altersstarsinn? Die verdeckte Operation war jedenfalls gründlich in die

Weitere Kostenlose Bücher