Cruzifixus
äußeres Zeichen seiner königlichen Würde hatte sich Jesus die seidenweiße, mit Purpurstreifen verbrämte Toga eines römischen Prokurators übergeworfen. Statt dem Dornendiadem trug er den Lorbeerkranz des Imperators. Hinter ihm stand Petrus. Der Erste der Jünger hatte die Maske des getreuen, blind ergebenen Dieners abgelegt und stolzierte mit der Hochmutsmiene des Primas und obersten Hirten aller Christen einher. Auf seinen Wink hin zog die vor dem Richtstuhl Jesu aufmarschierte Prätorianergarde ihre Schwerter. Das Metall der Damaszenerklingen blinkte und blitzte in der Morgensonne. Eine Gestalt im härenen Gewand des Büßers lag vor Jesus im Staub. Ein Gnom tanzte wie ein Irrwisch um den am Boden liegenden herum und deutete immer wieder mit seinen knochigen Klauen auf den Verurteilten. Petrus spie verächtlich aus und wandte sich von dem nichtswürdigen Schauspiel angewidert ab. Der Messias saß reglos auf seinem Thron und senkte den Daumen. Einer der Prätorianer hob sein Schwert und schlug dem Gnom mit einem einzigen Hieb das Haupt ab. Der seinem Kopf beraubte Rumpf kippte lautlos zur Seite. Ein Schwall scharlachroten Blutes schoss aus der Schlagader, spritzte auf die blütenweiße Chlamys des Gardisten. Der Kopf kullerte wie eine reife, vom Baum der Erkenntnis gefallene Frucht vor die Füße Jesu. Blitzlichtartig erkannte er das zur Grimasse verzerrte Gesicht des geköpften Gnomen: Paulus! Wie geschah ihm? Was wurde hier gespielt? War das hier ein Alptraum, ein Nachtmahr oder missbrauchte der Teufel die kabbalistische Kunst der Temurah, um seinen Glauben an Gottes Sohn zu erschüttern? Ihm schwirrte der Kopf. Jelial schien in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch zu lesen:
„Judas hat Jesus verraten, Paulus die heilige Lehre der Thora! Zweifle nicht an deiner Mission. Deine Seele ist aus dem Licht und von den Göttern gekommen – die Erde ist nur ein Exil.“
Da vermeinte er zu hören wie eine Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Dann war nur noch Stille und das ängstliche Pochen seines Herzens. Pio spürte wie die Kälte in ihm hoch kroch, wie er zu frieren begann. Mit der Kälte stiegen alte, verschüttet geglaubte Ängste wie Feuerquallen aus den dunklen Tiefen des Unterbewussten. Sein Gewissen regte sich, um ihn an die Endlichkeit aller irdischen Existenz zu gemahnen. War er verdammt, würde er im Fegefeuer brennen? Nein, die Hölle war ein öder, lebensfeindlicher Ort, der so kalt war wie die Hand eines Toten.
Einer der im Orbit über ihn kreisenden Sinnessatelliten registrierte ein Störgeräusch: ein monotones Pochen, dass von draußen kommen musste. Da war jemand, der etwas von ihm wollte. Das Klopfen wurde lauter, drängender. Im Halbschlaf stöhnte er:
„Perchè sbattere la porta?“
Ein heiseres, krähenähnliches Krächzen war die Antwort:
„Entschuldigt vielmals die Störung Padre! Ich belästige euch nur äußerst ungern. Aber der Herr Abt wünscht euch umgehend zu sehen…“
Der Bruder Pförtner verstummte. Offenbar holte er tief Luft, um sich Gehör zu verschaffen:
„Padre Pio? Seid ihr wach? Wir hatten gehofft, dass ihr uns bei der Frühmesse Gesellschaft leistet und uns anschließend zum Morgenmahl ins Refektorium begleitet.“
Die Stimme klang besorgt, ja fast furchtsam:
„Abt Placidus will euch dringend sprechen! Ein Gespräch, dass wie er sich ausdrückte keinerlei Aufschub duldet!“
Pio schielte nach den Leuchtdioden des Weckers. Unwillkürlich stieß er hervor:
„Viertel vor Sechs! Porco Dio! Was will dieser Trottel…“
Ja, was wollte seine Impertinenz, Hochwürden Placidus Birnbacher zu dieser unchristlichen Zeit von ihm? Draußen näselte, nörgelte der Mönchsbruder:
„Habt ihr etwas gesagt Padre? Abt Placidus erwartet euch in 15 Minuten in seinem Arbeitszimmer!“
Pio verspürte das dringende Bedürfnis dem Kapuzenknecht die Gurgel umzudrehen. Wie ein aus dem Winterschlaf gerissener Grizzly wälzte er sich aus seiner Koje. Ihn beschlich das untrügliche Gefühl, dass dies alles nur ein böser Traum, ein übler Scherz war. Im Halbkoma stieß er ungehalten hervor:
„Richtet eurem werten Herrn Abt aus,
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