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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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zur grauen Betondecke empor. Das grelle Licht der Deckenlampen blendete ihn. Wer die Geschichte verstehen wollte, der musste den Grauschleier behutsam lüften und im Zerrspiegel der Zeit nach vertrauten Mustern suchen – um am Ende seinem Doppelgänger in Gestalt eines Golems zu begegnen.

Die Schatten der Seraphim
    Adora quod incendisti, incende quod adorasti! Bewundere was du verbrannt, verbrenne was du bewundert hast!
     
    Den Raum um ihn erfüllte ein unirdisches Leuchten, düster und durchscheinend wie die Flammen der Dunkelheit. Lichtfäden hingen wir Perlschnüre vor einer noch leeren Weltbühne herab. Eine rot glühende Lohe durchwob die wabernden Nebelschleier. Gestaltlose Gebilde warfen formlos, amorphe Schatten. Unzählige Lichtpünktchen verglühten im Ascheregen des Anfangs wie Sternschnuppen an einem noch unfertigen Firmament. Ein einziger Herzschlag ließ den Funken überspringen. Und es ward Licht. Er war versucht die Augen aufzuschlagen und die visionären Traumbilder zu verjagen. Die Kunst der Temurah bestand indes darin sinnreiche Dispositionen zu treffen, um die Seele an der Seite eines wohlmeinenden Engels zu den Pforten des Glanzes aufsteigen zu lassen. Weder ein leichtes, noch ein ungefährliches Unterfangen. Da endlich schwebte ein geräuschloser Schatten inmitten einer rotgolden schimmernden Aura über ihn. Undeutlich und gedämpft - so als ob Wattepfropfen in seinen Ohren steckten - vernahm er eine zarte, sylphenhafte Stimme:
                „Fürchte dich nicht. Ich bin Jeliel, der Engel des Herrn. Ich bin gekommen, um dir den Weg des Weisheit zu weisen!“
                Ein in den Sphärenspiegeln der Sefirot gebündelter Lichtstrahl traf auf die äußeren Schichten seines Selbst, drang in sein Innerstes und löste seine Seele einer Cellophanfolie gleich von ihrer fleischlichen Hülle. Eingesponnen in einem schützenden Kokon stieg er, den irdischen Gesetzen enthoben, zum Himmel empor. Erst langsam, dann immer schneller. Der Engel flog in elliptischen Kreisbahnen um die Erde, ehe er in den Sog eines gewaltigen Partikelstrahls glitt. Am Ende einer tunnelartigen Röhre gleißenden Lichts schimmerten ihnen die kristallenen Sphären des siebten, obersten Himmels entgegen. Erst als die gewaltigen Schatten der Seraphim über ihnen auftauchen, verlangsamte sich der wie im Zeitraffer dahin rasende Flug durch Raum und Zeit. Sein Schutzengel landete mit einem eleganten Flügelschlag im Narthex des Tempels. Vor ihnen ragte das mit glitzernden Edelsteinen, Saphiren, Rubinen und Amethysten und Beryllen übersäte Himmelstor bis in die Unendlichkeit des Ewigen, Einzigen und Unerklärlichen. Mit entrückter, verzückter Miene hub Jeliel zu jubilieren an:
                „Durch neun Pforten führt der Weg der Verdammten ins Tal von Gai Hinom. Durch neun Tore windet sich der Pfad der Gerechten hinauf ins himmlische Jerusalem. Herr der Welten, du bist eins, aber nicht nach der Zahl. Du stehst über allen Höhen, verborgener als alles Verborgene. Kein Gedanke entgeht dir je. Du bist der, der die zehn Vollkommenheiten hervorbrachte, die wir die zehn Sefirot nennen, durch die Du die Welten beherrscht, verborgen, versteckt und offenbart.“
                Ein Blitz von ungeheurer Leuchtkraft zuckte über das Himmelsgewölbe. Die Sphärenspiegel reflektierten ein gläsern, glänzendes Licht, heller als von tausend Sonnen. Für den Bruchteil einer Sekunde vermeinte er darin den Widerschein Gottes zu erkennen. Unverdrossen fuhr der Engel in seinem Singsang fort:
                „Herr der Welten, du bist die Ursache aller Ursachen, die erste Ursache, die den Baum aus deiner Quelle bewässert. Diese Quelle ist wie die Seele dem Körper das Leben des Körpers. Nichts lässt sich vergleichen mit Dir, weder drinnen noch draußen. Du hast den Himmel und die Erde erschaffen, die Sonne und den Mond, die Sterne und die Sternbilder. Du wirst der Herr von allen genannt. Hab keine Furcht! Nur die Feinde Gottes trifft das Strafgericht am Tag des Zorns!“
                Wie von Geisterhand flammten die Schreckensbilder jenes grausigen Strafgerichts vor seinen angstvoll aufgerissenen Augen auf: Jesus betrat mit versteinerter, unnahbarer Miene die Tribüne. Der Nazarener hatte die Rollen getauscht: er war nicht länger der Gepeinigte, Gekreuzigte. Der Dornenbekrönte hatte sich in den König der Erden, den Herr über Leben und Tod, Himmel und Hölle verwandelt. Als

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