Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

mit einer wahren Geschichte à la hässliches Entlein unterhalten können. Oder sie wäre nett und unscheinbar geblieben. Man weiß nie, wie sich ein zehnjähriges Mädchen entwickelt.
    Natalies Mutter ging nach vorn, wobei sie einen Zettel umklammerte. Ihr Gesicht war feucht, doch ihre Stimme klang fest.
    »Dies ist ein Brief an meine einzige Tochter Natalie.« Sie holte unsicher Luft, doch dann strömten die Worte nur so aus ihr heraus. »Natalie, du warst mein allerliebstes Mädchen. Ich kann nicht begreifen, dass du uns genommen wurdest. Nie wieder werde ich dir ein Schlaflied vorsingen oder dich am Rücken kitzeln. Nie wieder wird dein Bruder deine Zöpfe verdrehen oder dein Vater dich auf dem Schoß halten. Dein Vater wird dich nicht zum Altar führen. Dein Bruder wird niemals Onkel. Du wirst uns beim Sonntagsessen und im Sommerurlaub fehlen. Wir werden dein Lachen vermissen. Wir werden deine Tränen vermissen. Vor allem aber, meine geliebte Tochter, werden wir dich vermissen. Wir lieben dich, Natalie.«
    Als Mrs. Keene an ihren Platz zurückkehrte, eilte ihr Mann ihr entgegen, doch sie brauchte keine Stütze. Sobald sie saß, drängte sich ihr Sohn an sie und weinte an ihrer Schulter. Mr. Keene drehte sich um und blinzelte wütend nach hinten, als wollte er jemanden schlagen.
    »Es ist eine furchtbare Tragödie, ein Kind zu verlieren«, hob der Geistliche an. »Es ist doppelt furchtbar, es durch die Hand des Bösen zu verlieren. Denn der, der das getan hat, ist böse. Die Bibel sagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Doch lasset uns nicht bei der Rache verweilen. Lasset uns lieber an das denken, was Jesus von uns verlangte: Liebe deinen Nächsten. Lasst uns in diesen schweren Zeiten gut zu unseren Nächsten sein. Erhebet eure Herzen.«
    »Das mit dem Auge gefiel mir besser«, knurrte ein Mann hinter mir.
    Ich fragte mich, ob sich niemand an der Stelle mit den Zähnen stieß.
    Als wir ins gleißende Sonnenlicht traten, entdeckte ich vier Mädchen, die gegenüber auf einer niedrigen Mauer hockten. Lange Fohlenbeine baumelten herunter. Brüste wölbten sich in Push-up- BH s. Den Mädchen war ich schon am Waldrand begegnet. Sie drängten sich lachend aneinander, bis eine, wieder die Hübscheste, auf mich zeigte und sie alle wie im Spiel die Köpfe hängen ließen. Doch ihre Bäuche vibrierten vor Lachen.
    Natalie wurde im Familiengrab neben einem Stein beigesetzt, auf dem schon die Namen ihrer Eltern standen. Ich kenne die Weisheit, dass kein Kind vor seinen Eltern sterben soll, weil es wider den Lauf der Natur sei. Dennoch ist es die einzige Möglichkeit, sein Kind wirklich zu behalten. Kinder werden erwachsen, gehen neue Bindungen ein. Finden Ehepartner oder Geliebte. Werden nicht mit einem selbst begraben. Die Keenes aber werden eine Familie in ihrer reinsten Form bleiben. Unter der Erde.
     
    Nach dem Begräbnis versammelten sich die Leute im Haus der Keenes, der wohlhabenden Version eines amerikanischen Landhauses. In Wind Gap gibt es kein zweites Haus wie dieses. Wer in Missouri Geld hat, distanziert sich von ländlicher Idylle und bäuerlicher Romantik. Man bedenke: Im Amerika der Kolonialzeit trugen die reichen Frauen gedecktes Blau oder Grau, um sich vom grellen Bild der Neuen Welt zu unterscheiden, während sich ihre reichen Pendants in England auftakelten wie die Paradiesvögel. Kurzum, das Heim der Keenes war zu typisch für Missouri, um echten Einheimischen zu gehören.
    Auf der Anrichte standen hauptsächlich Fleischgerichte: Truthahn und Schinken, Rind und Wild. Dazu gab es eingelegtes Gemüse, Oliven und gefüllte Eier, Brötchen mit glänzender Kruste und Eintöpfe. Die Gäste teilten sich in zwei Gruppen: tränenreiche und trockene. Die Stoiker standen in der Küche, tranken Kaffee und Schnaps und unterhielten sich über die bevorstehende Kommunalwahl und die Zukunft der Schulen, wobei sie sich gelegentlich im Flüsterton über die sich dahinschleppenden Ermittlungen empörten.
    »Ich schwöre, wenn jemand meinen Mädchen zu nahe kommt, erschieße ich den Hurensohn, bevor er den Mund aufmachen kann«, sagte ein Mann mit dreieckigem Gesicht und schwenkte dabei sein Roastbeefsandwich. Seine Freunde nickten zustimmend.
    »Ich kapier nicht, wieso Vickery nicht den ganzen Wald abholzen lässt. Wir wissen doch, dass er da drin ist«, sagte ein jüngerer Mann mit roten Haaren.
    »Donnie, morgen komm ich mit«, erklärte das Dreiecksgesicht. »Wir nehmen den Wald Stück für Stück auseinander, bis wir