Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
und oberflächlich, blieb aber immer sie selbst. Auch ging sie zwangloser mit mir um als meine eigene Mutter. Sie hatte mir die ersten Tampons zugesteckt, mich augenzwinkernd aufgefordert, sie anzurufen, falls ich Rat benötigte, und mich fröhlich mit Jungen aufgezogen. Kleine Gesten, große Wirkung. »Wie geht’s, Schätzchen? Deine Momma hat mir gar nicht erzählt, dass du hier bist. Aber sie spricht im Augenblick auch nicht mit mir – muss sie wieder mal enttäuscht haben. Du kennst das ja.« Sie stieß ein kollerndes Raucherlachen aus und drückte meinen Arm. Vermutlich betrunken.
»Wahrscheinlich hab ich irgendwann vergessen, ihr eine Karte zu schreiben«, plapperte sie weiter und gestikulierte mit ihrem Weinglas. »Oder ihr hat der Gärtner, den ich empfohlen habe, nicht gepasst. Ich hab gehört, du schreibst eine Story über die Mädchen, muss schwer für dich sein.« Ihre Konversation war so holprig und sprunghaft, dass ich einen Augenblick brauchte, um alles mitzukriegen. Als ich etwas sagen wollte, streichelte sie mir über den Arm und schaute mich aus feuchten Augen an. »Camille, Kleines, wir haben uns verdammt lange nicht gesehen. Und wenn ich dich so anschaue, dann bist du immer noch so alt wie diese Mädchen. Ich bin so traurig. Es ist so viel schiefgelaufen. Ich begreife das einfach nicht.« Eine Träne rann über ihre Wange. »Komm mal vorbei, ja? Zum Erzählen.«
Ich verließ das Haus der Keenes, ohne Kommentare gesammelt zu haben. Ich war des Redens müde, dabei hatte ich kaum etwas gesagt.
Nachdem ich noch etwas getrunken hatte – ich hatte mir einen Wodka für unterwegs mitgenommen – und sicher am anderen Ende einer Telefonleitung saß, rief ich die Keenes noch einmal an. Stellte mich vor und sagte, worüber ich schreiben wollte. Es kam nicht gut an.
An diesem Mittwochabend lieferte ich den folgenden Artikel ab:
In dem winzigen Ort Wind Gap, Missouri, hingen noch die Plakate, auf denen man die Rückkehr der zehnjährigen Natalie Jane Keene erflehte, als das Mädchen am Dienstag beerdigt wurde. Der aufwühlende Gottesdienst, in dem der Geistliche von Vergebung und Erlösung sprach, trug kaum dazu bei, die Gemüter zu beruhigen oder die Wunden zu heilen. Denn das reizende Mädchen war schon das zweite Opfer eines mutmaßlichen Serienmörders. Eines Serienmörders, der es auf Kinder abgesehen hat.
»Aber die Kleinen hier sind doch alle so lieb«, sagte Farmer Ronald J. Kamens, der bei der Suche nach Natalie geholfen hatte. »Ich weiß wirklich nicht, warum das gerade uns passiert.«
Natalie wurde am 14 . Mai erdrosselt in einem Spalt zwischen zwei Gebäuden an der Main Street aufgefunden. »Wir werden dein Lachen vermissen«, sagte ihre Mutter Jeannie Keene, 52 . »Wir werden deine Tränen vermissen. Vor allem aber werden wir dich vermissen.«
Dies ist nicht die erste Tragödie, die das im äußersten Südosten von Missouri gelegene Wind Gap heimgesucht hat. Am 27 . August des vergangenen Jahres wurde die neunjährige Ann Nash in einem nahen Bach gefunden, ebenfalls erdrosselt. Sie war am Vorabend entführt worden, als sie mit dem Rad zu einer Freundin fahren wollte. Wie verlautete, zog der Mörder beiden Opfern sämtliche Zähne.
Die fünf Mitarbeiter der Polizei von Wind Gap sind ratlos. Da es ihnen an Erfahrung mit derart brutalen Verbrechen fehlt, hat man das Morddezernat aus Kansas City hinzugezogen, das einen Ermittler schickte, der sich auf die Erstellung psychologischer Täterprofile spezialisiert hat. Die 2120 Einwohner von Wind Gap sind sich jedoch einig: Dieser Täter mordet ohne ein besonderes Motiv.
»Da draußen läuft einer rum und sucht nach Kindern, die er töten kann«, sagte Anns Vater Bob Nash, 41 , Verkäufer von ergonomischen Stühlen. »Hier gibt es keine Familiendramen, keine Geheimnisse. Irgendjemand hat einfach beschlossen, unser kleines Mädchen zu töten.«
Bislang konnte nicht geklärt werden, warum der Täter den Mädchen sämtliche Zähne zog, Hinweise hierzu gibt es kaum. Die örtliche Polizei verweigert jeglichen Kommentar. Bis diese Morde aufgeklärt sind, schützt das einstmals so beschauliche Wind Gap seine Kinder selbst – es wurde eine Ausgangssperre verhängt, und die Nachbarn sind doppelt wachsam.
Die Bewohner versuchen, alleine mit der Situation zurechtzukommen. »Ich will mit keinem reden«, sagte Jeannie Keene. »Ich will nur meine Ruhe. Wir alle wollen unsere Ruhe.«
Routineschreibe – das weiß ich selbst. Noch während
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