Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
den Hurensohn haben. Seid ihr dabei?« Die anderen murmelten zustimmend und tranken weiter Schnaps aus Plastikbechern. Ich nahm mir vor, am Morgen am Wald vorbeizufahren und nachzusehen, ob die Entschlossenheit den Kater besiegt hatte. Aber ich konnte mir die dümmlichen Anrufe morgen früh schon ausmalen:
Fährst du?
Hm, weiß nicht, du denn?
Na ja, hab Maggie versprochen, die Sturmfenster abzunehmen …
Sie würden sich auf ein Bier verabreden und ganz sachte den Hörer auflegen, um das vorwurfsvolle Klicken zu dämpfen.
Die Leute, die weinten, meist Frauen, saßen im Wohnzimmer auf plüschigen Sofas und ledernen Ottomanen. Natalies Bruder schluchzte erbarmungswürdig in den Armen seiner Mutter, während sie ihn lautlos weinend wiegte und ihm übers dunkle Haar strich. Was für ein süßer Junge, dass er seine Tränen nicht verbarg. Das hatte ich noch nie erlebt. Wohlmeinende Damen kamen mit Papptellern voller Essen vorbei, doch Mutter und Sohn schüttelten nur den Kopf. Meine Mutter umflatterte die beiden wie ein wild gewordener Blauhäher, doch sie beachteten sie nicht, und so kehrte sie bald in den Kreis ihrer Freundinnen zurück. Mr. Keene stand mit Mr. Nash in einer Ecke, beide rauchten schweigend.
Im ganzen Zimmer lagen noch Erinnerungen an Natalie verstreut. Ein kleiner grauer Pulli lag gefaltet auf einer Sessellehne, neben der Tür standen Turnschuhe mit leuchtend blauen Schnürsenkeln. Auf einem Bücherregal sah ich ein Spiralheft, auf dem vorn ein Einhorn abgebildet war, und in einem Zeitungsständer steckte eine eselsohrige Ausgabe von YOUNG MISS TODAY .
Wie gemein von mir. Ich hatte mich der Familie nicht einmal vorgestellt, sondern schlich einfach durchs Haus und spionierte, starrte in mein Bierglas wie ein verschämtes Gespenst. Ich entdeckte Katie Lacey, meine beste Freundin von der Calhoon High, mit ihrem gutfrisierten Freundeskreis, einem um zwanzig Jahre verjüngten Spiegelbild der Clique meiner Mutter. Als ich näher kam, küsste sie mich auf die Wange.
»Ich hatte gehofft, du rufst mal an, wenn du schon hier bist«, sagte sie und hob die schmalgezupften Augenbrauen, bevor sie mich an drei Frauen weiterreichte, die mich allesamt mit einer schlaffen Umarmung begrüßten. Ich war wohl mal mit ihnen befreundet gewesen. Wir bekundeten unser Mitgefühl. Angie Papermaker (geb. Knightley) sah aus, als kämpfte sie noch immer gegen die Bulimie, die schon auf der Highschool an ihr gezehrt hatte – ihr Hals war dünn und sehnig wie der einer alten Frau. Mimi, ein reiches verwöhntes Ding (ihr Daddy besaß eine Menge Hühnerfarmen in Arkansas), das mich nie sonderlich gemocht hatte, erkundigte sich flüchtig nach Chicago und wandte sich dann umgehend an die winzige Tish, die in einer gutgemeinten, aber sonderbaren Geste meine Hand hielt.
Angie verkündete, sie habe eine fünfjährige Tochter – die ihr Ehemann zu Hause mit geladener Waffe bewache.
»Für die Kleinen wird es ein langer Sommer«, murmelte Tish. »Ich nehme an, alle sperren jetzt ihre Kinder weg.« Ich dachte an die Mädchen, die ich vor der Kirche gesehen hatte und die kaum älter als Natalie waren. Ob deren Eltern sich keine Sorgen machten?
»Hast du Kinder, Camille?«, erkundigte sich Angie, die Stimme dünn wie ihr ganzer Körper. »Ich weiß nicht mal, ob du verheiratet bist.«
»Zweimal nein«, antwortete ich und trank schlürfend von meinem Bier. Blitzartig fiel mir ein, wie Angie nach der Schule bei uns zu Hause gekotzt hatte und rosig und triumphierend wieder aus dem Badezimmer aufgetaucht war. Curry irrte sich: Dass ich von hier kam, war eher störend als nützlich.
»Meine Damen, ihr könnt die Weitgereiste nicht den ganzen Abend in Beschlag nehmen!« Ich drehte mich um und entdeckte Jackie O’Neele (geb. O’Keefe), eine Freundin meiner Mutter, offenbar frisch geliftet. Ihre Augen waren noch geschwollen, das Gesicht feucht, rot und gespannt wie bei einem zerknautschten Baby, das sich wütend aus dem Mutterleib gequält hat. An ihren gebräunten Fingern blitzten Brillanten, und ich roch Juicy Fruit und Talkumpuder, als sie mich umarmte. Der Abend hatte für meinen Geschmack zu viel von einer Wiedersehensfeier. Und ich fühlte mich wieder wie ein Kind – wagte nicht mal, mein Notizbuch zu zücken, solange mir meine Mutter warnende Blick zuwarf.
»Kleines, du siehst so hübsch aus«, schnurrte Jackie. Sie hatte einen melonengroßen Kopf, zu oft gebleichtes Haar und ein lüsternes Grinsen. Jackie war boshaft
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