Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
besorgt.«
Ich ging ein wenig unsicher zur Tür. Der Wodka hatte mir die nötige Grundlage gegeben, um diesen Tag an diesem Ort zu überstehen. Seit etwa sechs Monaten hatte ich nicht mehr getrunken, aber hier galten andere Regeln. Meine Mutter wartete vor der Tür und spähte herein wie in den Trophäenraum eines toten Kindes. Was nicht so ganz falsch war. Sie hielt mir eine große hellgrüne Tube hin.
»Mit Vitamin E. Hab ich heute Morgen gekauft.«
Meine Mutter glaubt an die lindernde Wirkung von Vitamin E, als könnte es mich wieder glatt und makellos machen, wenn ich mir nur genug davon auf die Haut schmiere. Bislang hatte es nicht geholfen.
»Danke.«
Ihre Augen tasteten über meinen Hals, meine Arme und Beine. Ich hatte im Bett nur ein T-Shirt getragen. Dann kehrte sie stirnrunzelnd zu meinem Gesicht zurück. Sie seufzte und schüttelte leicht den Kopf. Stand einfach nur da.
»War die Beerdigung sehr schlimm für dich?« Selbst jetzt konnte ich einem Konversationsversuch nicht widerstehen.
»Ja. Es hatte so viel Ähnlichkeit mit damals. Der kleine Sarg.«
»Für mich war es auch schwer.« Der nächste Schritt. »Es hat mich selbst überrascht. Ich vermisse sie. Immer noch. Seltsam, was?«
»Es wäre seltsam, wenn du sie nicht vermissen würdest. Sie war doch deine Schwester. Das tut beinahe so weh, wie ein Kind zu verlieren. Auch wenn du damals noch sehr jung warst.«
Unten pfiff Alan demonstrativ vor sich hin, doch meine Mutter tat, als hörte sie es nicht. »Den offenen Brief, den Jeannie Keene vorgelesen hat, fand ich nicht besonders«, fuhr sie fort. »Es war doch ein Begräbnis, keine Wahlveranstaltung. Und warum waren alle so zwanglos gekleidet?«
»Ich fand den Brief schön. Er kam von Herzen«, erwiderte ich. »Hast du seinerzeit bei Marians Beerdigung nichts vorgelesen?«
»Nein, nein. Ich konnte kaum stehen, geschweige denn Reden halten. Schwer zu glauben, dass du dich nicht daran erinnerst, Camille. Ist es dir nicht peinlich, dass du das alles vergessen hast?«
»Momma, ich war doch erst dreizehn, als sie gestorben ist.« Konnte es wirklich fast zwanzig Jahre her sein?
»Ja, sicher. Also gut, was möchtest du heute unternehmen? Die Rosen im Daly Park stehen in voller Blüte, vielleicht magst du spazieren gehen.«
»Ich muss zur Polizeiwache.«
»Du sollst das doch nicht erwähnen«, fuhr sie mich an. »Sag einfach, du hast etwas zu erledigen oder gehst Freunde besuchen.«
»Ich habe etwas zu erledigen.«
»Gut. Viel Spaß.«
Sie tappte über den dicken Teppich davon, dann hörte ich die Treppenstufen leise knarren.
Ich ließ kühles Wasser in die Wanne, um mich darin zu waschen, schaltete das Licht aus und stellte das Wodkaglas auf den Rand. Anschließend zog ich mich an und trat in den Flur. Das Haus war still, so still, wie es ein hundert Jahre altes Bauwerk eben zuließ. Ich ging nach draußen, um zu sehen, ob ich allein war. In der Küche surrte ein Ventilator. Ich schnappte mir einen leuchtend grünen Apfel und biss hinein, während ich das Haus verließ. Der Himmel war wolkenlos.
Auf der Veranda entdeckte ich das Kuckuckskind. Ein Mädchen, das mit dem Rücken zu mir vor einem riesengroßen Puppenhaus saß, das genauso aussah wie das Haus meiner Mutter. Langes blondes Haar in gebändigten Rinnsalen. Als sie sich umdrehte, erkannte ich die Hübsche, mit der ich am Waldrand gesprochen, die mit ihren Freundinnen bei Natalies Begräbnis gelacht hatte.
»Amma?«, fragte ich. Sie lachte.
»Natürlich. Wer sonst sollte auf Adoras Veranda mit Klein-Adoras Puppenhaus spielen?«
Sie trug ein kindliches Karokleid, neben ihr lag ein passender Strohhut. Zum ersten Mal sah sie so alt aus, wie sie war, nämlich dreizehn. Nein, eigentlich jünger. Das Kleid passte eher zu einer Zehnjährigen. Sie runzelte die Stirn, als sie meinen prüfenden Blick bemerkte.
»Ich trage das hier für Adora. Zu Hause bin ich ihr Püppchen.«
»Und sonst?«
»Bin ich was anderes. Du bist Camille. Meine Halbschwester. Adoras älteste Tochter, vor
Marian.
Du kamst vor ihr, ich danach. Du hast mich nicht erkannt.«
»Ich war zu lange weg. Und Adora hat mir seit fünf Jahren keine Weihnachtsfotos mehr geschickt.«
»Mag sein, aber wir machen die Scheißfotos immer noch. Jedes Jahr kauft sie mir extra dafür ein rot-grün kariertes Kleid. Und sobald wir fertig sind, verbrenne ich das Ding.«
Sie zupfte einen mandarinengroßen Schemel aus dem Wohnzimmer des Puppenhauses und hielt ihn mir hin. »Muss
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