Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Und James ist nach Hause gerannt. Und seitdem kommt er nicht mehr raus.«
»Woher weißt du dann, was passiert ist?«
»Ich hab ihn einmal besucht. Er hat’s mir erzählt. Bin sein Kumpel.«
»Wohnt James hier in der Nähe?«
»Scheiß drauf. Vielleicht fahr ich im Sommer sowieso zu meiner Oma. Nach Arkansas. Ist schöner als hier.«
Der Junge warf den Ball gegen den Maschendrahtzaun, der das Baseballfeld umgab, und er blieb drin stecken.
»Bist du von hier?« Er trat den losen Staub in die Luft.
»Ja. Ich wohne aber nicht mehr hier. Bin zu Besuch.« Ich versuchte es noch einmal: »Wohnt James hier in der Nähe?«
»Gehst du zur Highschool?« Sein Gesicht war tief gebräunt. Er sah aus wie ein Marine im Kleinformat.
»Nein.«
»Zum College?« Sein Kinn war nass von Spucke.
»Bin zu alt dafür.«
»Muss los.« Er hüpfte rückwärts, riss den Ball wie einen faulen Zahn aus dem Zaun, drehte sich zu mir um und wackelte nervös mit den Hüften. »Muss los.« Er warf den Ball zur Straße, wo er mit einem vernehmlichen Rums von meinem Wagen abprallte. Dann rannte er hinterher und war verschwunden.
Im verlassenen Supermarkt fand ich in einem zeitschriftendünnen Telefonbuch den Eintrag
Capisi, Janel
. Ich warf schnell ein paar Erdbeer Pop Tarts ein und fuhr zur Adresse 3617 Holmes.
Das Haus der Capisis lag im Osten der Stadt, einer Gegend, wo die Mieten billig waren. Klapprige Häuser mit drei Zimmern, deren Mieter meist auf der nahen Schweinefarm arbeiteten, die fast zwei Prozent des amerikanischen Schweinefleischs liefert. Fast alle armen Bewohner von Wind Gap arbeiten dort, so auch Capisi Senior. Ferkeln die Zähne kappen und sie in Käfige packen, Sauen besamen und einpferchen, Jauchegrube entleeren – das alles gehört zur Aufzucht. Das Schlachten ist schlimmer. Einige Mitarbeiter laden die Schweine aus und zwingen sie über die Rampe, an deren Ende sie betäubt werden. Die Nächsten packen die Tiere bei den Hinterbeinen und fesseln sie, bevor die quiekenden, strampelnden Schweine mit einer Hebevorrichtung kopfüber nach oben gezogen werden. Man schneidet ihnen mit spitzen Schlachtermessern die Kehle durch, dass das Blut wie dicke Farbe auf die gefliesten Böden spritzt. Und weiter geht’s zum Brühkessel. Um sich vor dem ständigen Geschrei, das wild und blechern klingt, zu schützen, tragen die meisten Arbeiter Ohrstöpsel. Sie verrichten ihre Arbeit in stillem Zorn. Abends trinken sie und hören laute Musik. Heelah’s, die örtliche Kneipe, tischt kein Schwein, sondern zartes Geflügel auf, das von ebenso zornigen Fabrikarbeitern in einem ebenso elenden Kaff verarbeitet wurde.
Der Vollständigkeit halber sollte ich erwähnen, dass der Betrieb meiner Mutter gehört und im Jahr etwa 1 , 2 Millionen Dollar Gewinn abwirft. Geleitet wird er natürlich von anderen Leuten.
Auf der Veranda der Capisis heulte ein Kater, und als ich mich dem Haus näherte, hörte ich die Geräuschkulisse einer Talkshow. Ich hämmerte gegen die Fliegentür und wartete. Der Kater rieb sich an meinem Bein; ich spürte seine Rippen durch die lange Hose. Ich hämmerte wieder, der Fernseher ging aus. Der Kater stolzierte unter der Schaukel hindurch und jaulte weiter. Ich fuhr mit dem Fingernagel das Wort
jaulen
auf meiner rechten Handfläche nach und klopfte erneut.
»Mom?« Ein Kind am offenen Fenster.
Durch das trübe Fliegengitter sah ich einen dünnen Jungen mit dunklen Locken und riesigen Augen.
»Hi, tut mir leid, wenn ich störe. Bist du James?«
»Was wollen Sie?«
»Hi, James. Na, läuft gerade was Schönes im Fernsehen?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Ich möchte helfen, damit wir schnell herausfinden, wer deiner Freundin wehgetan hat. Können wir ein bisschen reden?«
Er ging nicht weg, fuhr nur mit dem Finger über den Fenstersims. Ich setzte mich auf die Schaukel.
»Ich heiße Camille. Ein Freund von dir hat mir erzählt, was du gesehen hast. Ein Junge mit ganz kurzem blonden Haar.«
»Dee.«
»Heißt er so? Ich hab ihn im Park getroffen, in dem du auch mit Natalie gespielt hast.«
»Sie hat sie geholt. Keiner glaubt mir. Ich hab keine Angst. Ich muss nur drinnen bleiben. Meine Mom hat Krebs. Sie ist krank.«
»Das hat Dee auch erzählt. Ich mache dir keine Vorwürfe. Hoffentlich hab ich dich nicht erschreckt, weil ich einfach so gekommen bin.« Er kratzte mit einem zu langen Fingernagel über das Fliegengitter. Das Geräusch juckte in meinen Ohren.
»Sie sehen ihr nicht ähnlich. Sonst hätte ich
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