Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Mutters Steakmesser. Wie ein Kind schnitt ich an imaginären roten Linien entlang. Reinigte mich. Drang tiefer ein. Reinigte mich. Goss Bleiche über das Messer und brachte es heimlich zurück in die Küche.
Böse
. Erleichterung. Den ganzen Tag versorgte ich die Wunde. Bohrte ein alkoholgetränktes Wattestäbchen in die Rundungen des B. Tätschelte meine Wange, bis es nicht mehr brannte. Lotion. Heftpflaster. Noch mal von vorn.
Natürlich fing es lange vorher an. Probleme sind schon da, lange bevor man sie erkennt. Ich war neun und schrieb mit einem dicken, getupften Bleistift
Unsere kleine Farm
ab, die ganze Serie. In Spiralhefte mit leuchtend grünem Umschlag.
Als ich zehn war, schrieb ich jedes Wort, das meine Lehrerin sagte, mit blauem Kuli auf meine Jeans. Ich wusch sie heimlich mit Babyshampoo aus. Die Wörter zerliefen und hinterließen indigoblaue Hieroglyphen auf den Hosenbeinen, als wäre ein winziger, tintenverschmierter Vogel darüber gehüpft.
Mit elf schrieb ich zwanghaft alles auf einen winzigen blauen Notizblock. Die geborene Reporterin. Jeder Satz musste auf Papier gebannt werden, damit er mir nicht entglitt. Ich sah die Wörter vor mir in der Luft – Camille, gib mir bitte die Milch – und fürchtete, sie könnten sich wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs auflösen. Schrieb ich sie aber auf, blieben sie erhalten. Und ich musste keine Angst haben, dass sie verschwanden. Ich war eine Sprachkonservatorin, der Klassenfreak. Eine nervöse Achtklässlerin, die mit geradezu religiösem Eifer Sätze mitschrieb (»Mr. Feeney ist total schwul«, »Jamie Dobson ist hässlich«, »Bei denen gibt es nie Kakao«).
Marian starb an meinem dreizehnten Geburtstag. Ich wachte auf, tappte wie jeden Morgen durch den Flur, um ihr hallo zu sagen, und fand sie mit offenen Augen im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen. Es überraschte mich nicht, das weiß ich noch. Sie lag im Sterben, solange ich denken konnte.
In jenem Sommer geschahen noch andere Dinge. Ich wurde ganz plötzlich und unverkennbar schön. Es hätte auch anders kommen können. Eigentlich galt Marian immer als Schönheit: große blaue Augen, winzige Nase, perfektes Kinn. Meine Gesichtszüge veränderten sich von Tag zu Tag, als würden vorüberziehende Wolken schmeichelhafte oder kränkliche Schatten auf mein Gesicht werfen. Doch nachdem es seine Form gefunden hatte – und das geschah für alle sichtbar in jenem Sommer, in dem ich die ersten Blutstropfen an meinen Oberschenkeln entdeckte und zwanghaft zu masturbieren begann –, war ich süchtig, selbstverliebt, flirtete mit jedem Spiegel. Ungezähmt wie ein Fohlen. Alle mochten mich gern. Ich war nicht länger bemitleidenswert (die mit der toten Schwester, wie gruselig). Ich war das hübsche Mädchen (die mit der toten Schwester, wie traurig). Ich wurde beliebt.
In jenem Sommer begann ich mich zu schneiden und war davon ähnlich hingerissen wie von meiner neuentdeckten Schönheit. Ich liebte es, mich zu pflegen, eine flache rote Blutlache mit einem feuchten Waschlappen wegzuwischen und wie von Zauberhand knapp über dem Nabel das Wort
mulmig
zu lesen. Mich mit alkoholgetränkten Wattebäuschen zu betupfen, wobei zarte Fasern an den blutigen Linien von
munter
hafteten. Im letzten Schuljahr hatte ich eine obszöne Periode, die ich später korrigierte. Ein paar schnelle Schnitte, und aus
Muschi
wurde
Masche
, aus
Pimmel Himmel,
aus
Möse Möhre
.
Das letzte Wort, das ich sechzehn Jahre später in meinen Körper ritzte, lautete:
verschwinden.
Manchmal höre ich, wie sich die Wörter auf meinem Körper unterhalten.
Höschen
auf der Schulter ruft
Kirsche
innen am rechten Knöchel etwas zu.
Nähen
unter dem dicken Zeh droht
Baby
unter meiner linken Brust. Ich kann sie beruhigen, indem ich an
verschwinden
denke, das die anderen Wörter vom sicheren Nacken aus still und königlich regiert.
Und: Mitten auf dem Rücken, wo ich nicht hinreiche, befindet sich ein faustgroßer Kreis aus makelloser Haut.
Im Laufe der Jahre haben manche Sätze eine ganz persönliche Bedeutung für mich gewonnen.
Du kannst in mir lesen wie in einem Buch. Soll ich es dir buchstabieren? Mir fehlen die Worte.
Komisch, was? Ich kann mich nur ertragen, solange ich völlig bekleidet bin. Vielleicht gehe ich irgendwann zum Arzt und frage, ob er mich wieder glatt machen kann. Doch im Augenblick kann ich die Reaktionen noch nicht ertragen. Also trinke ich, damit ich nicht zu viel darüber nachdenke, was ich meinem Körper
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