Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
verfallen, wollte schon in die Küche laufen und Tee kochen, wie ich es immer gemacht hatte, wenn Marian krank war. Wollte mich meiner Mutter nähern und warten, ob sie auch mich umarmte. Sie und Amma sagten nichts. Meine Mutter schaute mich nicht einmal an, zog Amma nur noch enger an sich und gurrte ihr sanft ins Ohr.
»Wir Crellins sind ein bisschen anfällig«, meinte Alan etwas schuldbewusst. In der Tat empfingen die Ärzte in Woodberry im Durchschnitt einen Crellin pro Woche – meine Mutter und Alan neigten zu Überreaktionen, wenn es um ihre Gesundheit ging. Als Kind hatte sie mich mit Salben und Ölen, selbstgemachten Hausmitteln und homöopathischem Unsinn bedrängt. Manchmal trank ich das eklig schmeckende Gebräu, oft auch nicht. Dann wurde Marian krank, schlimm krank, und Adora hatte Wichtigeres zu tun, als mich zu überreden, ihren Weizenkeimextrakt zu schlucken. Die Erinnerung versetzte mir einen Stich: Sie hatte mir so viel Sirup und Tabletten angeboten, und ich hatte alles abgelehnt. Danach genoss ich nie wieder ihre volle mütterliche Aufmerksamkeit. Wäre ich bloß nicht so widerspenstig gewesen.
Die Crellins. Alle hier waren Crellins, nur ich nicht. Wie kindisch.
»Tut mir leid, dass du krank bist, Amma«, sagte ich.
»Das Muster auf den Beinen stimmt nicht«, jammerte sie plötzlich los und hielt meiner Mutter empört das Tischchen hin.
»Hast du gute Augen, Amma«, sagte Adora und betrachtete blinzelnd das Möbelstück. »Es fällt kaum auf, Kleines. Außer dir wird es keiner merken.« Sie strich Amma das feuchte Haar aus der Stirn.
»Es muss aber stimmen«, widersprach Amma mit funkelnden Augen. »Wir müssen es zurückschicken. Es ist eine Sonderanfertigung, also muss auch alles passen.«
»Liebes, man merkt es wirklich nicht, versprochen.« Meine Mutter tätschelte Ammas Wange, doch die stand bereits auf.
»Du hast gesagt, es wird perfekt. Du hast es mir versprochen!« Ihre Stimme bebte, Tränen tropften auf den Boden. »Jetzt ist alles kaputt. Das ganze Ding ist kaputt. Es geht um das Esszimmer – und wenn der Tisch nicht passt, kann ich es nicht leiden!«
»Amma …« Alan faltete die Zeitung zusammen und wollte seine Tochter umarmen, doch sie wich ihm aus.
»Mehr wollte ich nicht, mehr habe ich nicht verlangt, und euch ist es vollkommen egal, dass es nicht stimmt!«, kreischte sie unter Tränen. Ein waschechter Tobsuchtsanfall samt wutverzerrtem Gesicht.
»Beruhige dich, Amma«, meinte Alan kühl und griff erneut nach ihr.
»Mehr wollte ich nicht!«, keuchte Amma und schleuderte das Tischchen zu Boden, wo es in fünf Teile zerbrach. Sie zermalmte es mit dem Fuß, vergrub das Gesicht im Sofakissen und heulte.
»Sieht aus, als müssten wir ein neues machen lassen«, sagte meine Mutter.
Ich zog mich in mein Zimmer zurück, wollte weg von dem schrecklichen Mädchen, das so ganz anders als Marian war. Mein Körper loderte förmlich. Ich lief umher, konzentrierte mich aufs Atmen, wollte meine Haut beruhigen. Doch sie schrie es laut heraus. Manchmal haben Narben ihren eigenen Willen.
Ich schneide mich nämlich. Ich schnipsle, schlitze, ritze, steche. Ich bin ein Sonderfall. Bei mir steckt ein Plan dahinter. Meine Haut schreit. Sie ist mit Wörtern übersät –
Koch, Törtchen, Kätzchen, Locken
– als hätte ein Erstklässler mit einem Messer auf meiner Haut schreiben gelernt. Manchmal, ganz selten, lache ich auch. Steige aus der Badewanne und lese aus dem Augenwinkel
Babydoll
auf meinem Bein. Ziehe einen Pullover an, und an meinem Handgelenk blitzt kurz
schädlich
auf. Wozu die Wörter? Auch nach tausend Therapiestunden konnten sich die werten Doktoren keinen Reim darauf machen. Viele Wörter klingen feminin, irgendwie niedlich und rosarot. Andere schlichtweg negativ. Wie viele Synonyme des Wortes ängstlich sind in meine Haut graviert? Antwort: elf. Heute weiß ich nur, dass für mich damals alles davon abhing, diese Wörter auf meinem Körper zu sehen, sie nicht nur zu sehen, sondern auch zu spüren. An meiner linken Hüfte flammt
Petticoat.
Ganz in der Nähe steht mein allererstes Wort,
böse
, das ich mit dreizehn an einem angsterfüllten Sommertag eingeritzt hatte. Als ich an jenem heißen, öden Morgen aufwachte, dachte ich mit Grauen an die Stunden, die vor mir lagen. Wie kann man sich sicher fühlen, wenn der ganze Tag so weit und leer ist wie der Himmel? Alles war möglich. Ich weiß noch, wie ich das Wort schwer und klebrig über dem Schambein spürte.
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