Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
sich den Honig in zarten Schleifen darüber.
»Weil du
mich
liebst«, sagte Amma kauend. Die widerliche Mischung von Fleisch und Süßem wogte zu mir herüber. »Ich wünschte, ich würde auch ermordet.«
»Amma, sag doch so etwas nicht.« Meine Mutter wurde blass. Ihre Finger zuckten zu den Wimpern, sie zwang sich, die Hand wieder auf den Tisch zu legen.
»Dann müsste ich mir nie wieder Sorgen machen. Wenn man stirbt, wird man vollkommen. Ich wäre wie Prinzessin Diana. Sie wird heute von allen geliebt.«
»Sei nicht so gierig, Amma. Du bist das beliebteste Mädchen an deiner Schule und wirst von uns allen vergöttert.«
Amma trat mich erneut und lächelte nachdrücklich, als wäre soeben eine wichtige Frage geklärt worden. Sie warf einen Zipfel ihres Oberteils über die Schulter. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Hauskleid in Wirklichkeit ein geschickt drapiertes blaues Laken war. Meine Mutter hatte es ebenfalls bemerkt.
»Was um alles in der Welt trägst du da?«
»Mein Jungfrauengewand. Wir wollen im Wald Jeanne d’Arc spielen. Die Mädchen verbrennen mich.«
»Das wirst du keineswegs tun, Liebes«, knurrte meine Mutter und entriss Amma den Honig, bevor sie ihren Schinken weiter damit tränken konnte. »Zwei Mädchen in deinem Alter sind tot, und du willst allen Ernstes im Wald spielen?«
Die Kinder im Wald spielen wilde, geheime Spiele.
So fing ein Gedicht an, das ich mal auswendig kannte.
»Keine Sorge, uns passiert nichts.« Amma lächelte so süß, dass es klebrig wirkte.
»Du bleibst hier.«
Sie stocherte in ihrem Schinken und murmelte etwas Obszönes. Meine Mutter wandte sich mit geneigtem Kopf zu mir, wobei der Diamant in ihrem Trauring wie ein SOS aufblitzte.
»Nun, Camille, können wir denn auch etwas Nettes unternehmen, während du hier bist? Ein Picknick im Garten vielleicht. Oder wir machen einen Ausflug im Cabrio und gehen in Woodberry Golf spielen. Gayla, ich hätte gerne Eistee.«
»Klingt ganz schön. Aber ich muss erst herausfinden, wie lange ich hierbleibe.«
»Sicher, das wüssten wir auch gern. Natürlich kannst du bleiben, solange du möchtest«, sagte sie. »Aber wir würden uns gern darauf einstellen.«
»Klar doch.« Ich biss in die Banane, ein grünes, geschmackloses Nichts.
»Oder Alan und ich könnten dich auch mal oben in Chicago besuchen. Eigentlich haben wir gar nichts von der Stadt gesehen.« Die Klinik lag anderthalb Fahrstunden südlich des Zentrums. Meine Mutter war bis O’Hare geflogen und hatte von dort aus ein Taxi genommen. Es kostete sie 128 Dollar, 140 inklusive Trinkgeld.
»Das wäre schön. Es gibt ein paar wunderbare Museen. Und der See wird dir gefallen.«
»Weißt du, ich kann Wasser einfach nicht mehr genießen.«
»Warum nicht?« Doch ich wusste es schon.
»Nicht, nachdem man die kleine Ann Nash im Bach ertrinken ließ.« Sie nippte an ihrem Eistee. »Ich kannte sie nämlich.«
Amma schluchzte und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Sie wurde nicht ertränkt«, sagte ich, um sie zu ärgern. »Sie wurde erdrosselt. Erst danach hat man sie in den Bach geworfen.«
»Und dann das Keene-Mädchen. Ich hatte beide gern. Sehr gern.« Sie schaute wehmütig in die Ferne, und Alan legte seine Hand auf ihre. Amma stand auf, stieß einen leisen Schrei aus, der an einen aufgeregten Welpen erinnerte, und rannte nach oben.
»Armes Ding«, sagte meine Mutter. »Sie nimmt es fast so schwer wie ich.«
»Kann ich mir vorstellen, immerhin hat sie die Mädchen jeden Tag gesehen.« Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. »Woher kanntest du sie denn?«
»Wind Gap ist nun mal eine Kleinstadt. Es waren reizende, schöne Mädchen. Einfach wunderschön.«
»Aber du hast sie nicht richtig gekannt.«
»Ich kannte sie. Gut sogar.«
»Woher?«
»Hör bitte auf, Camille. Ich habe dir eben gesagt, dass ich ziemlich durcheinander bin, und statt mich zu trösten, greifst du mich an.«
»Also hast du sämtlichen Gewässern abgeschworen?«
»Du musst jetzt wirklich aufhören, Camille.« Sie faltete die Serviette wie eine Windel um die Reste ihrer Birne und verließ das Zimmer. Alan folgte ihr, zwanghaft pfeifend wie ein Klavierspieler, der einem Stummfilm dramatische Würze verleiht.
Auch das widert mich an meiner Mutter an: Alle Tragödien dieser Welt betreffen sie persönlich. Sie grämt sich um Menschen, die ein Unglück ereilt hat, selbst wenn sie sie überhaupt nicht kennt. Sie weint bei den Nachrichten. Die Grausamkeit der Menschen ist einfach zu
Weitere Kostenlose Bücher