Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
haben Sie keinerlei Anhaltspunkte.«
Er zuckte grinsend die Achseln. »Das war mein Kommentar.«
»Na gut, jetzt mal unter uns: Sie haben keinerlei Anhaltspunkte?«
Er klappte den Deckel der klebrigen Sirupflasche auf und zu und legte das Besteck quer über den Teller.
»Ganz unter uns, Camille: Halten Sie das wirklich für das Werk eines Außenstehenden? Sie sind doch Polizeireporterin.«
»Nein, das tue ich nicht.« Es fiel mir schwer, es laut auszusprechen. Ich versuchte, nicht auf die Zinken der Gabel zu schauen.
»Kluges Mädchen.«
»Vickery sagt, Sie glauben, es könnte ein Tramper gewesen sein.«
»Verdammt nochmal, das habe ich ein einziges Mal erwähnt, als ich vor neun Monaten herkam. Er will damit nur meine Unfähigkeit beweisen. Vickery und ich haben ein Kommunikationsproblem.«
»Gibt es denn Verdächtige?«
»Lassen Sie uns diese Woche mal einen trinken gehen. Ich möchte alles hören, was Sie über Wind Gap wissen.«
Er griff nach der Rechnung und schob die Sirupflasche zur Wand, wobei sie einen klebrigen Ring auf dem Tisch hinterließ. Ich tauchte gedankenlos einen Finger hinein und leckte ihn ab. Narben lugten aus meinem Ärmel hervor. Richard blickte hoch, als ich gerade die Hände wieder unter dem Tisch versteckte.
Ich hatte nichts dagegen, Richard von Wind Gap zu erzählen. Ich verspürte keine besondere Loyalität gegenüber der Stadt. Hier war meine Schwester gestorben, hier hatte ich begonnen, mich zu schneiden. Die Stadt ist zu klein, ich kann hier kaum atmen und stolpere ständig über Menschen, die ich nicht leiden kann. Menschen, die eine Menge über mich wissen. Es ist einer der Orte, die einen prägen.
Oberflächlich betrachtet hätte es mir hier gar nicht besser gehen können, dafür sorgte schon meine Mutter. Sie wurde von der ganzen Stadt geliebt, sie war der Zuckerguss auf dem Kuchen, das schönste und reizendste Mädchen, das je in Wind Gap aufgewachsen war. Ihren Eltern, also meinen Großeltern, gehörten die Schweinezucht und die Hälfte der Häuser, die drum herumstanden, und für meine Mutter galten dieselben strengen Regeln wie für die Arbeiter: nicht trinken, nicht rauchen, nicht fluchen und jeden Sonntag in die Kirche gehen. Man kann sich ausmalen, was geschah, als meine Mutter mit siebzehn schwanger wurde. Ein Junge aus Kentucky, den sie in einem kirchlichen Ferienlager kennengelernt hatte, kam Weihnachten zu Besuch und hinterließ mich in ihrem Bauch. Vor Wut und proportional zum schwellenden Bauch meiner Mutter entwickelten ihre Eltern Zwillingstumore und starben beide im Jahr nach meiner Geburt an Krebs.
Meine Großeltern hatten Freunde in Tennessee, deren Sohn Adora zu umwerben begann, noch bevor ich feste Nahrung zu mir nehmen konnte, und er kam fast jedes Wochenende zu Besuch. Ich stelle mir die Sache eher peinlich vor. Alan mit den Bügelfalten, der sich übers Wetter auslässt. Meine Mutter, erstmals allein und unbehütet, auf der Suche nach einer guten Partie, lacht über seine Witze. Witze? Ich bin mir nicht sicher, ob Alan je welche erzählt hat, aber meine Mutter fand gewiss einen Anlass, um mädchenhaft zu kichern. Und wie passe ich in dieses Bild? Vielleicht in einem entlegenen Zimmer, wo mich das Hausmädchen ruhig hält und dafür fünf Dollar von Adora zugesteckt bekommt. Ich kann mir vorstellen, wie Alan meiner Mutter einen Antrag machte, während er angestrengt an ihr vorbeischaute oder an einer Zimmerpflanze herumfummelte, um jeden Blickkontakt zu vermeiden. Meine Mutter nahm den Antrag dankend an und schenkte Tee nach. Vielleicht tauschten sie einen dürren Kuss.
Egal. Bis ich sprechen konnte, waren sie schon verheiratet. Über meinen leiblichen Vater weiß ich fast nichts. Der Name auf der Geburtsurkunde ist falsch: Newman Kennedy, nach dem Lieblingsschauspieler und Lieblingspräsidenten meiner Mutter. Damit ich ihn nicht aufspüren konnte, weigerte sie sich, mir seinen richtigen Namen zu verraten. Schon acht Monate nach der Hochzeit gebar sie Marian, Alans Kind. Sie war damals zwanzig, er fünfunddreißig und mit einem Vermögen ausgestattet, das meine Mutter gar nicht brauchte, da sie ja selbst eins besaß. Keiner von ihnen hat je gearbeitet. Ansonsten habe ich im Laufe der Zeit nur wenig über Alan erfahren. Er ist ein preisgekrönter Reiter, der nicht mehr reitet, weil es Adora nervös macht. Er ist häufig krank und selbst im gesunden Zustand praktisch unbeweglich. Er liest zahllose Bücher über den Bürgerkrieg und scheint
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