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Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)

Titel: Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Flynn
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viel für sie.
    Nachdem Marian gestorben war, blieb sie ein ganzes Jahr in ihrem Zimmer. Einem wunderbaren Zimmer mit einem Himmelbett, groß wie ein Schiff, und einer Frisierkommode voller Parfümflakons aus mattiertem Glas. Mit einem prachtvollen Boden, der schon für mehrere Einrichtungsmagazine fotografiert worden war: Er bestand aus reinem Elfenbein, das in Quadraten verlegt war und den Raum von unten erleuchtete. Ich hatte früher große Ehrfurcht vor diesem Zimmer und seinem berühmten Boden gehabt, vor allem, weil es verbotenes Terrain für mich war. Wichtige Leute wie Truman Winslow, der Bürgermeister von Wind Gap, hatten ihr wöchentlich Besuche abgestattet, Blumensträuße und Romanklassiker mitgebracht. Gelegentlich erhaschte ich einen Blick auf meine Mutter, wenn sich die Tür für Besucher öffnete. Sie lag stets im Bett, auf schneeweiße Kissen gestützt, in zarte Blumenkleider gehüllt. Ich selbst durfte nie hinein.
     
    Currys Ultimatum für den Artikel lief in zwei Tagen ab, und ich hatte bislang wenig mitzuteilen. Ich saß in meinem Zimmer, die Hände wie zum Gebet verschränkt, und fasste in Gedanken zusammen, was ich bisher wusste. Niemand hatte gesehen, wie Ann Nash im vergangenen August entführt wurde. Sie war einfach verschwunden, und ihre Leiche tauchte zehn Stunden später einige Meilen entfernt im Falls Creek auf. Sie war etwa vier Stunden nach ihrem Verschwinden erdrosselt worden. Das Fahrrad wurde nie gefunden. Ich tippte, dass sie die Person gekannt hatte. Ein Fremder hätte kaum ein Kind samt Fahrrad mitnehmen können, wenn es sich wehrte. War es jemand aus der Kirche oder der Nachbarschaft gewesen? Bei dem sie sich sicher fühlte?
    Doch warum wurde Natalie tagsüber entführt, vor den Augen eines Freundes? Es ergab keinen Sinn. Wäre nicht Natalie Keene, sondern James Capisi entführt worden, wenn er zu nah am Waldrand gestanden hätte, statt verstohlen Sonne zu tanken? Oder hatte es die Person von Beginn an auf das Mädchen abgesehen? Natalie wurde länger festgehalten als Ann: Sie blieb über zwei Tage verschwunden, bevor man ihre Leiche in dem schmalen Spalt zwischen dem Eisenwarenladen und dem Schönheitssalon fand.
    Was hatte James Capisi gesehen? Nach dem Gespräch mit ihm war mir nicht ganz wohl. Nicht dass er unbedingt log. Aber Kinder gehen mit entsetzlichen Dingen anders um. Der Junge hatte etwas Grauenhaftes gesehen, und das Grauen verwandelte sich in die Hexe aus dem Märchen, die böse Stiefmutter, die grausame Schneekönigin. Was, wenn diese Person nur weiblich ausgesehen hatte? Ein schlaksiger Mann mit langem Haar, ein Transvestit, ein androgyner Junge? Frauen töten einfach nicht auf diese Weise. Weibliche Serienmörder lassen sich an einer Hand abzählen, und ihre Opfer sind fast immer männlich – meist stecken unglückliche Bettgeschichten dahinter. Doch die Mädchen waren nicht sexuell missbraucht worden, was ebenfalls nicht ins Muster passte.
    Auch ergab die Auswahl dieser beiden Mädchen keinen Sinn. Beide waren nicht sonderlich hübsch gewesen.
Ashleigh war nämlich immer die Hübsche
, hatte Bob Nash gesagt.
    Natalie stammte aus einer wohlhabenden Familie, die noch nicht lange in Wind Gap wohnte. Ann hingegen gehörte zur unteren Mittelschicht, und die Familie lebte seit Generationen hier. Sie waren nicht miteinander befreundet gewesen. Die einzige Verbindung war ein gemeinsamer Hang zu Grausamkeiten, falls ich Vickerys Geschichten glauben durfte. Und dann gab es noch die Theorie mit dem Tramper. Ermittelte Richard Willis tatsächlich in diese Richtung? Wir befanden uns in der Nähe der Fernstraße nach Memphis, auf der viele Schwerlaster verkehrten. Aber neun Monate sind eine lange Zeit, um unbeobachtet in der Gegend zu bleiben, und die Jäger hatten in den Wäldern rund um Wind Gap kaum Wild übrig gelassen.
    Ich spürte, wie sich meine Gedanken im Kreis drehten, gefärbt von alten Vorurteilen und zu viel Insiderwissen. Plötzlich sehnte ich mich verzweifelt danach, mit Richard Willis zu sprechen, der nicht aus Wind Gap stammte, den dies alles nur rein beruflich anging, als ein Projekt, das durchgeführt und abgeschlossen werden musste. So wollte ich auch denken.
    Ich nahm im Dunkeln ein kühles Bad. Dann setzte ich mich auf den Rand der Wanne und rieb mich eilig mit der Lotion ein, die meine Mutter gekauft hatte. Die Höcker und Wülste auf meiner Haut ließen mich erschauern.
    Ich zog eine leichte Baumwollhose und einen Rolli mit langen Ärmeln an.

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