Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
keines Blickes, sondern marschierte gleich zu Bob Nash. »Bob, Betsy hat erzählt, eine Reporterin sei hier. Ich wusste sofort, dass es nur meine Tochter sein konnte. Es tut mir furchtbar leid. Ich möchte mich tausendmal für die Störung entschuldigen.«
Bob Nash starrte Adora an, dann mich. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie deine Tochter ist.«
»Das wundert mich nicht. Camille ist nicht gerade ein Familienmensch.«
»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«, fragte Nash.
»Ich sagte Ihnen doch, dass ich aus Wind Gap stamme. Mir war nicht klar, dass Sie sich auch für meine Mutter interessieren.«
»Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht sauer auf Sie. Aber Ihre Mutter ist eine wirklich gute Freundin von uns.« Eine großherzige Gönnerin seiner Familie. »Sie hat Ann Nachhilfe in Englisch und Rechtschreibung gegeben. Die beiden haben sich sehr gut verstanden. Ann war unglaublich stolz, eine erwachsene Freundin zu haben.«
Meine Mutter saß da, die Hände im Schoß gefaltet, den Rock um sich auf dem Sofa ausgebreitet und schaute mich durchdringend an, als wollte sie mich warnen, nur ja nichts zu verraten. Aber ich hatte keine Ahnung, was.
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte ich dann. Was auch stimmte. Ich hatte geglaubt, sie übertreibe ihre Trauer und gebe nur vor, die Mädchen gekannt zu haben. Jetzt war ich erstaunt, wie sehr sie sich beherrschte. Doch warum um alles in der Welt hatte sie Ann Nachhilfe gegeben? Als ich klein war, war sie in der Schule bei der Mütterhilfe gewesen – wohl vor allem, um sich mit den anderen Hausfrauen von Wind Gap zu treffen –, doch konnte ich mir kaum vorstellen, dass sie edelmütig genug war, um die Nachmittage mit einem Wildfang aus dem ärmlichen Westen der Stadt zu verbringen. Ich hatte Adora unterschätzt. Das kam vor.
»Camille, ich glaube, du solltest jetzt gehen. Ich mache einen Freundschaftsbesuch und kann mich in deiner Gegenwart nur schwer entspannen.«
»Mr. Nash und ich haben unser Gespräch noch nicht beendet.«
»Oh doch.« Adora schaute Nash auffordernd an, und er lächelte unbeholfen, als blinzelte er in die Sonne.
»Vielleicht können wir es später fortsetzen, Miss … Camille.« Plötzlich blitzte ein Wort an meiner Hüfte auf:
bestraft.
Ich spürte, wie es brannte.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Mr. Nash.« Ich verließ das Zimmer, ohne meine Mutter anzusehen. Und weinte schon, noch bevor ich das Auto erreicht hatte.
7 . Kapitel
E inmal stand ich in Chicago an einer Straßenecke und wartete auf Grün, als ein Blinder mit klickendem Gehstock neben mich trat.
Wie heißen die Nebenstraßen?
, fragte er, und als ich nicht antwortete, drehte er sich zu mir und fragte:
Ist hier jemand?
Ich bin hier
, sagte ich, und die Worte klangen unerhört tröstlich. Wenn ich in Panik gerate, spreche ich sie laut vor mich hin.
Ich bin hier.
Meist fühle ich mich nämlich anders. Als könnte mich ein warmer Windstoß für immer wegwehen, ohne dass auch nur der Halbmond eines Fingernagels von mir bleibt. Manchmal ist die Vorstellung beruhigend, dann wieder fröstele ich bei diesem Gedanken.
Mein Gefühl der Schwerelosigkeit rührt wohl daher, dass ich so wenig über meine Vergangenheit weiß. Das war jedenfalls die Lösung, die mir die Seelenklempner in der Klinik anboten. Ich versuche schon lange nicht mehr, etwas über meinen Vater zu erfahren; wenn ich ihn mir vorstelle, sehe ich ein ganz allgemeines »Vaterbild«. Ich kann es nicht ertragen, mir Details auszumalen, dass er einkaufen geht oder morgens eine Tasse Kaffee trinkt oder zu seinen Kindern nach Hause kommt. Ob ich irgendwann zufällig über ein Mädchen stolpere, dass aussieht wie ich? Als Kind versuchte ich immer, eine echte Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und mir zu entdecken, die bewies, dass ich von ihr abstammte. Ich musterte sie prüfend, wenn sie nicht hinsah, stahl die gerahmten Porträts aus ihrem Zimmer und wollte mir einreden, ich hätte ihre Augen. Oder etwas, das nicht im Gesicht zu erkennen war. Der Schwung des Unterschenkels, die Mulde zwischen den Schlüsselbeinen.
Sie erzählte mir nicht einmal, wie sie Alan kennengelernt hatte. Was ich über die beiden weiß, habe ich von anderen gehört. Fragen sind unerwünscht und gelten als Schnüffelei. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, wenn meine Zimmergenossin im College mit ihrer Mutter telefonierte: Die Detailfreude und fehlende Zensur erschienen mir dekadent. Sie erzählte solch alberne
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