Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
hin.
Ich hatte ein heikles Gleichgewicht gestört. Geschwister leiden immer unter albernen Eifersüchteleien, das war mir klar, und die Nash-Kinder standen nicht nur untereinander in einem panischen Wettbewerb, sondern mussten auch noch mit einer toten Schwester konkurrieren. Ich fühlte mit ihnen.
»Betsy«, murmelte Bob Nash leise und hob die Augenbrauen. Sofort wurde Bobby Junior hochgehoben und auf die Hüfte gesetzt, Tiffanie mit einem Arm vom Boden gezogen und samt der untröstlichen Ashleigh aus dem Zimmer geführt.
Bob Nash sah ihnen nach.
»So geht das jetzt seit fast einem Jahr, mit den Mädchen, meine ich. Benehmen sich wie Babys. Eigentlich dachte ich, sie wollten unbedingt ganz schnell erwachsen werden. Seit Ann weg ist, hat sich hier mehr verändert …« Er rutschte auf dem Sofa herum. »Sie war eine richtige Persönlichkeit. Klar, man denkt, was sind schon neun Jahre? Aber sie war wirklich eine Persönlichkeit. Irgendwie wusste ich immer, wie sie über die Dinge dachte. Beim Fernsehen merkte ich genau, was sie lustig und was sie blöd fand. Das merke ich bei meinen anderen Kindern nicht. Verdammt, ich merke es nicht mal bei meiner Frau. Ann war einfach
da
. Ich …« Es schnürte ihm die Kehle zu. Er stand auf und wandte sich ab, beschrieb einen Kreis hinter dem Sofa und wandte sich dann wieder mir zu. »Verdammt, ich will sie wiederhaben. Was nun? Soll das alles sein?« Er deutete auf die Tür, durch die seine Frau und die Kinder verschwunden waren. »Wenn das nämlich so ist, hat es nicht mehr viel Sinn, oder? Herrgott, jemand soll den Kerl endlich finden, und dann soll er mir sagen, warum es ausgerechnet Ann sein musste. Ich will es wissen. Bei ihr habe ich immer gedacht, sie wird es im Leben zu etwas bringen.«
Ich saß einen Moment lang still da, spürte den Pulsschlag am Hals.
»Mr. Nash, Sie haben angedeutet, dass Anns Persönlichkeit sehr ausgeprägt war. Könnte das auch zu Problemen geführt haben?«
Ich spürte, wie er misstrauisch wurde, merkte es an der Art, wie er sich hinsetzte und entschlossen zurücklehnte, die Arme ausbreitete und sich gelassen gab.
»Welche Probleme meinen Sie?«
»Na ja, ich hörte von einem Zwischenfall mit dem Vogel eines Nachbarn. Ann soll ihn verletzt haben.«
Bob Nash rieb sich die Augen und schaute auf seine Füße.
»Mein Gott, was wird hier getratscht. Niemand hat je bewiesen, dass es Ann war. Sie und die Mädels von drüben hatten schon vorher Streit. Joe Duke wohnt gegenüber. Seine Mädchen sind älter, zogen Ann ständig auf und so. Eines Tages holten sie sie zum Spielen rüber. Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist, aber als Ann zurückkam, schrien alle, sie hätte ihren beschissenen Vogel getötet.« Er lachte und zuckte die Achseln. »Wär mir auch egal gewesen, war sowieso ein alter Schreihals.«
»Meinen Sie, Ann wäre zu so etwas fähig gewesen, wenn sie sich provoziert fühlte?«
»Wer Ann provozierte, muss ein Idiot gewesen sein. Das konnte sie absolut nicht vertragen. Sie benahm sich dann nicht gerade damenhaft.«
»Glauben Sie, sie kannte ihren Mörder?«
Nash hob ein rosa T-Shirt vom Sofa und faltete es quadratisch wie ein Taschentuch. »Früher dachte ich das nicht. Heute schon. Ich glaube, sie ist mit jemandem mitgegangen, den sie kannte.«
»Wäre sie eher mit einem Mann oder einer Frau mitgegangen?«
»Sie kennen also James Capisis Geschichte?«
Ich nickte.
»Na ja, ein Mädchen vertraut eher jemandem, der es an seine Mama erinnert, oder?«
Kommt auf die Mama an, dachte ich.
»Trotzdem glaube ich, es war ein Mann. Kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau einem Mädchen so was antut … Wie ich höre, hat John Keene kein Alibi. Vielleicht wollte er ein kleines Mädchen töten, sah Natalie tagein, tagaus und konnte seinen Trieb nicht unterdrücken. Also hat er stattdessen einen anderen Wildfang getötet, der ihn an Natalie erinnerte. Und am Ende konnte er es nicht länger verdrängen und hat auch Natalie geholt.«
»Erzählt man sich das?«
»So ungefähr.«
Plötzlich erschien Betsy Nash in der Tür. Sie schaute zu Boden und sagte: »Bob, Adora ist da.« Mein Magen verkrampfte sich unwillkürlich.
Meine Mutter rauschte herein wie eine frische Meeresbrise. Sie fügte sich besser ins Haus der Nashs als Mrs. Nash selbst. Adora besitzt die angeborene Begabung, andere Frauen nebensächlich erscheinen zu lassen. Betsy Nash zog sich zurück wie ein Hausmädchen aus früheren Zeiten. Meine Mutter würdigte mich
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