Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Verkäuferinnen noch so alles über ihn wissen mochten. Im Geiste sah ich sie mit sämtlichen Verkäuferinnen im südlichen Missouri plaudern und so ein verschwommenes Profil des Mannes zusammensetzen.
Meine Mutter tätschelte mir mit gazeweichen Händen den Kopf. »Wir brauchen ein neues Kleid für meinen Schatz. Etwas Buntes. Sie neigt immer zu Schwarz und Grau. Größe 36 / 38 .«
Die Frau, die so dünn war, dass sich ihre Hüftknochen unter der Kleidung vorwölbten, huschte zwischen den Rundständern umher und pflückte einen Strauß aus leuchtend grünen, blauen und rosa Kleidern.
»Das würde dir wunderbar stehen«, sagte Amma und hielt meiner Mutter ein goldenes Glitzertop hin.
»Hör auf, Amma, das ist geschmacklos.«
Ich konnte mich nicht bremsen. »Erinnere ich dich wirklich an meinen Vater?« Ich spürte, wie meine Wangen angesichts dieser vermessenen Frage ganz heiß wurden.
»Mir war klar, dass du darauf zurückkommen würdest«, sagte sie und frischte vor dem Spiegel ihren Lippenstift auf. Sie schaffte es, die Verbände dabei blütenweiß zu halten.
»Ich war nur neugierig, du hast noch nie gesagt, dass ich dich vom Wesen her an jemanden erinnere …«
»Du bist vom Wesen her auch ganz anders als ich. Und kommst gewiss nicht auf Alan, also muss es wohl dein Vater sein. Und jetzt Schluss damit.«
»Aber, Momma, ich wollte wissen …«
»Camille, wegen dir blute ich schon wieder.« Sie hob die Hände, die Verbände waren plötzlich rot gefleckt. Am liebsten hätte ich sie gekratzt.
Die Verkäuferin wankte mit einer ganzen Auswahl Kleider herbei. »Das hier müssen Sie einfach haben«, sagte sie und präsentierte ein türkisfarbenes Sonnenkleid. Schulterfrei.
»Und was ist mit dem Schätzchen hier?« Sie nickte zu Amma. »Sie passt vielleicht schon in unsere Minigrößen.«
»Amma ist erst dreizehn. Solche Kleider sind noch nichts für sie«, erklärte meine Mutter.
»Guter Gott, erst dreizehn. Sie kommt mir schon so erwachsen vor. Sie müssen ganz krank vor Sorge sein nach diesen Geschichten.«
Meine Mutter legte den Arm um Amma und küsste sie auf den Kopf. »An manchen Tagen denke ich, ich kann es nicht länger ertragen. Am liebsten möchte ich sie dann einsperren.«
»Wie Blaubarts Frauen«, murmelte Amma.
»Wie Rapunzel«, sagte meine Mutter. »Nur zu, Camille, zeig deiner Schwester, wie hübsch du aussehen kannst.«
Schweigend und selbstgerecht dirigierte sie mich in die Umkleidekabine. In dem kleinen verspiegelten Raum betrachtete ich die Auswahl, während meine Mutter draußen auf dem Stuhl hockte. Schulterfrei, Spaghettiträger, angeschnittene Ärmel. Meine Mutter wollte mich bestrafen. Ich entdeckte ein rosa Kleid mit Dreiviertel-Ärmeln, streifte Hose und T-Shirt ab und zog es rasch über. Der Ausschnitt war tiefer, als ich gedacht hatte: Die Wörter auf meiner Brust wirkten im grellen Licht geschwollen, als würden Würmer unter meiner Haut Tunnel graben.
Winseln, Milch, Schmerz, bluten.
»Lass mal sehen, Camille.«
»Nein, das geht nicht.«
»Lass sehen.« An meiner rechten Hüfte brannte
erniedrigen.
»Ich versuche ein anderes.« Ich wühlte in den Kleidern. Alle gleich enthüllend. Ich entdeckte mich im Spiegel. Entsetzlich.
»Mach die Tür auf, Camille.«
»Was hat sie denn?«, flötete Amma.
»Es geht einfach nicht.« Der Reißverschluss an der Seite klemmte. Auf meinen nackten Armen flammten Narben, tiefrosa und violett. Ich sah sie, ohne direkt in den Spiegel zu schauen – ein verschwommener Fleck aus versengter Haut.
»Camille«, zischte meine Mutter.
»Warum will sie es uns nicht zeigen?«
»Camille.«
»Momma, du hast die Kleider doch gesehen, du weißt, warum ich sie nicht tragen kann«, drängte ich.
»Zeig es mir einfach.«
»Ich probiere gern eins an«, schmeichelte Amma.
»Camille …«
»Na schön.« Ich stieß die Tür auf. Meine Mutter, das Gesicht auf einer Höhe mit meinem Ausschnitt, zuckte zusammen.
»Oh, mein Gott.« Ich spürte ihren Atem auf der Haut. Sie hob die verbundene Hand, als wollte sie meine Brust berühren, ließ sie aber wieder sinken. Hinter ihr jaulte Amma wie ein Welpe. »Schau nur, was du dir angetan hast«, sagte Adora. »Schau es dir an.«
»Tu ich doch.«
»Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht. Ich hoffe, du kannst dich selbst noch ertragen.«
Sie schlug die Tür zu, und ich riss am Kleid, dessen Reißverschluss noch immer klemmte. Die Zähne gaben meinem wütenden Zerren so weit nach, dass ich das Kleid bis
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