Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
hatte. Adora trug ein buttergelbes Sommerkleid und stapfte mit einer Gartenschere bewaffnet zwischen den rosa und gelben Blüten umher. Gierig untersuchte sie jede Blume, zupfte Blütenblätter ab, bohrte und drückte.
»Gayla, die brauchen mehr Wasser. Sieh nur, was du angerichtet hast.«
Sie griff nach einem Zweig mit einer zartrosa Blüte, setzte einen zierlichen Fuß darauf und knipste die Blume am Ansatz ab. Auf Gaylas Tablett lagen schon zwei Dutzend Rosen. Mir kamen sie völlig makellos vor.
»Camille, wir fahren heute nach Woodberry einkaufen«, rief meine Mutter ohne aufzublicken. »In Ordnung?« Sie verlor kein Wort über unser Kräftemessen bei den Nashs. Das wäre zu direkt gewesen.
»Ich habe einiges zu erledigen«, sagte ich. »Übrigens, ich wusste gar nicht, dass du mit den Nashs befreundet bist. Mit Ann, meine ich.« Ich spürte leise Gewissensbisse, weil ich letztens ihre Trauer in Frage gestellt hatte. Nicht dass es mir wirklich naheging – ich wollte nur auf keinen Fall in ihrer Schuld stehen.
»Hm. Alan und ich geben nächsten Samstag eine Party. Sie war schon geplant, lange bevor du uns besuchen kamst.« Die nächste Rose fiel ab. Ich sah den Stiel weinen.
»Ich dachte, du hättest die Mädchen kaum gekannt. Mir war nicht klar …«
»Schön. Es wird eine nette Sommerparty, viele interessante Leute, und dafür brauchst du ein passendes Kleid. Ich nehme an, du hast keins dabei, oder?«
»Nein.«
»Gut, dann können wir uns endlich mal in Ruhe unterhalten. Du bist jetzt schon eine ganze Woche hier.« Sie legte einen letzten Stiel auf das Tablett. »Gayla, die kannst du wegwerfen. Fürs Haus suchen wir später ein paar anständige Exemplare aus.«
Ich griff nach den Rosen. »Die nehme ich für mein Zimmer, Momma. Ich finde, sie sehen wunderbar aus.«
»Sind sie aber nicht.«
»Mir egal.«
»Camille, ich habe sie mir angesehen, die Blüten sind nicht gut.« Sie ließ die Zange auf den Boden fallen und zog an einem der Stiele.
»Aber mir gefallen sie. Ich möchte sie für mein Zimmer.«
»Sieh nur, was du angerichtet hast. Jetzt blute ich.« Meine Mutter hielt ihre zerkratzten Hände hoch, rote Rinnsale sickerten in Richtung Handgelenk. Gespräch beendet. Sie ging zum Haus, Gayla und ich folgten ihr. Der Knauf der Hintertür war klebrig rot.
Alan verband ihr umständlich die Hände, und als wir über Amma stolperten, die ihr Puppenhaus auf der Veranda aufgebaut hatte, zupfte Adora neckisch an ihrem Zopf und forderte sie auf, mit uns zu kommen. Amma gehorchte, und ich rechnete schon mit dem nächsten Tritt. Aber nein, meine Mutter war ja in der Nähe.
Adora wollte, dass ich uns drei in ihrem babyblauen Cabrio nach Woodberry fuhr, allerdings bei geschlossenem Verdeck. »Wir könnten uns erkälten«, sagte sie und lächelte Amma verschwörerisch zu. Die saß schweigend hinter meiner Mutter und grinste dreist, als ich ihren Blick im Rückspiegel auffing. Alle paar Minuten berührte sie Adoras Haar mit den Fingerspitzen, so leicht, dass diese es nicht bemerkte.
Als ich den Mercedes vor ihrem Lieblingsgeschäft abstellte, bat Adora mit schwacher Stimme, ich solle ihr die Tür aufmachen. Ihre ersten Worte seit zwanzig Minuten. Von wegen endlich richtig unterhalten. Ich hielt ihr auch die Tür der Boutique auf, und das feminine Glöckchen mischte sich mit dem erfreuten Gruß der Verkäuferin.
»Adora!« Dann ein Stirnrunzeln. »Mein Gott, Liebes, was haben Sie denn mit Ihren Händen gemacht?«
»Nur ein kleiner Unfall. Hatte im Haus zu tun. Ich gehe heute Nachmittag zum Arzt.« Na klar. Sie würde auch hingehen, wenn sie sich an Papier geschnitten hätte.
»Wie ist das denn passiert?«
»Ach, lassen wir das. Lieber stelle ich Ihnen meine Tochter Camille vor. Sie ist zu Besuch.«
Die Verkäuferin schaute erst zu Amma und lächelte mich dann zögernd an.
»Camille?« Sie fing sich rasch. »Ach, ich hatte ganz vergessen, dass Sie ja drei Töchter haben.« Beim Wort Töchter senkte sie feierlich die Stimme. »Sie kommt sicher auf ihren Vater«, sagte die Frau und musterte mich, als wäre ich ein Pferd auf einer Auktion. »Amma sieht Ihnen so ähnlich, und Marian tat das auch, so wie ich sie von Fotos kenne. Sie hier aber …«
»Sie schlägt mir nicht nach«, meinte meine Mutter. »Camille hat die Haare und Augen ihres Vaters geerbt, auch die Wangenknochen. Und sein Temperament.«
So viel hatte meine Mutter noch nie über meinen Vater verraten. Ich fragte mich, was andere
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