Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
komme ich klar. Besser als verzweifeltes Haareraufen.
»Nichts dergleichen ist passiert, Richard. Ich habe ihn sturzbetrunken im Heelah’s entdeckt und befürchtet, er könne sich etwas antun. Ich habe ihn ins Motel gefahren, weil ich bei ihm bleiben und seine Geschichten hören wollte. Ich brauche ihn für meine Story. Und weißt du, was ich erfahren habe? Deine Ermittlungen haben den Jungen zerstört. Dabei bist du nicht mal von seiner Schuld überzeugt.«
Nur der letzte Satz entsprach wirklich der Wahrheit, doch das wurde mir erst klar, nachdem ich ihn ausgesprochen hatte. Richard war klug, ein toller Polizist, extrem ehrgeizig. Er hatte es bei seinem ersten großen Fall mit einer aufgebrachten Bevölkerung zu tun, die nach einer Verhaftung schrie, und er hatte immer noch nichts vorzuweisen. Wenn er mehr gegen John in der Hand hätte als den bloßen Wunsch, einen Schuldigen zu präsentieren, hätte er ihn längst verhaftet.
»Camille, glaub was du willst, aber du weißt bei weitem nicht alles über diesen Fall.«
»Das habe ich auch nie geglaubt. Ich bin mir immer nur wie eine nutzlose Außenseiterin vorgekommen. Du hast es geschafft, mich zu vögeln und trotzdem dichtzuhalten. Du hast nichts durchsickern lassen.«
»Bist du deswegen immer noch sauer? Ich dachte, du wärst ein großes Mädchen.«
Schweigen. Ein Zischen, zitronensauer. Ich hörte schwach die große silberne Uhr an Richards Handgelenk ticken.
»Ich beweise dir, was für ein guter Kumpel ich sein kann«, sagte ich. Ich war wieder auf Autopilot programmiert, wie früher: gierig nach Unterwerfung, damit er sich besser fühlte, damit er mich wieder gern hatte. Letzte Nacht hatte ich mich für kurze Zeit ruhig und getröstet gefühlt, doch Richards Erscheinen hatte die letzten Spuren dieser Ruhe zerstört. Ich wollte sie wieder haben.
Ich kniete mich hin und fing an, seine Hose zu öffnen. Eine Sekunde lang legte er mir die Hand auf den Hinterkopf. Packte mich dann abrupt an der Schulter.
»Mein Gott, Camille, was tust du denn da?« Er merkte, wie grob sein Griff war, ließ los und zog mich auf die Füße.
»Ich will nur, dass alles wieder gut wird.« Ich spielte mit einem Knopf an seinem Hemd, wollte ihm aber nicht in die Augen sehen.
»Aber doch nicht so, Camille«, sagte er und küsste mich geradezu keusch auf die Lippen. »Das sollte dir klar sein, bevor wir überlegen, wie es mit uns weitergehen soll. Das sollte dir einfach klar sein. Ende der Ansage.«
Dann schickte er mich weg.
Ich schlief ein paar Stunden auf der Rückbank des Wagens. Sie vergingen ungefähr so schnell, als läse man ein Schild zwischen den vorbeifahrenden Waggons eines Zuges. Ich erwachte verschwitzt und schlecht gelaunt. Kaufte mir im Supermarkt eine Zahnbürste, dazu Körperlotion und ein Haarspray mit möglichst starker Duftnote. Ich putzte mir an einer Tankstelle die Zähne, rieb mir die Lotion unter die Achselhöhlen und zwischen die Beine, besprühte meine Haare, bis sie steif waren. Das Ergebnis war ein Geruch aus Schweiß und Sex unter einer Wolke aus Erdbeere und Aloe.
Ich konnte meiner Mutter jetzt unmöglich zu Hause gegenübertreten und kam auf die verrückte Idee, stattdessen zu arbeiten. Als würde ich diese Story wirklich schreiben. Als stünde nicht längst alles vor dem Zusammenbruch. Ich beschloss, noch einmal zu Katie zu fahren. Sie war bei der Mütterhilfe in der Schule, ein begehrtes Ehrenamt, das nur Frauen übernehmen konnten, die nicht arbeiten gingen: Sie tauchten zweimal wöchentlich im Klassenzimmer auf, halfen beim Kunst-, Werk- und Musikunterricht und nähten donnerstags mit den Mädchen. Jedenfalls zu meiner Zeit. Heute boten sie vermutlich etwas Moderneres, Geschlechtsneutrales an. Computerkurse oder Mikrowelle für Anfänger.
Wie meine Mutter wohnte auch Katie auf einer Anhöhe. Die schmale Treppe wurde von Rasen begrenzt und war von Sonnenblumen eingerahmt. Links vor dem Haus wuchs ein ranker, eleganter Trompetenbaum als weibliches Pendant zu der knorrigen Eiche rechts davon. Es war noch keine zehn Uhr, doch Katie sonnte sich bereits auf dem Dachbalkon, schlank und gebräunt, ein tragbarer Ventilator fächelte ihr Luft zu. Sonne ohne Hitze. Fehlte nur Bräune ohne Krebs. Oder wenigstens ohne Falten.
Sie sah mich die Treppe heraufkommen, eine kleine Bildstörung vor ihrem tiefgrünen Rasen, legte die Hand vor die Augen und musterte mich aus zwölf Metern Höhe.
»Wer ist da?«, rief sie. Sie trug ihr Haar, zu Schulzeiten ein
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