Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
Eve Renner sprach. Eve stand auffallend dicht bei dem Mann, den sie noch vor nicht allzu langer Zeit bezichtigt hatte, er habe sie umbringen wollen. Abby hatte natürlich Fotos von Eve gesehen und sogar einmal gegenüber ihrer Schwester Zoey im Scherz bemerkt, Eve könne durchaus als Verwandte durchgehen, doch das war nur ein flüchtiger Gedanke gewesen. Außerdem kannte sie Eves Gesicht aus der Zeitung und dem Fernsehen, wo es im Zusammenhang mit dem Mord an Roy Kajak aufgetaucht war. Doch erst jetzt, da sie Eve im Schein der Verandalampe mit Montoya reden sah, erkannte sie es: Im Halbdunkel sah Eve Faith Chastain so ähnlich, dass es schon unheimlich war.
Sie musste blind gewesen sein, es nicht früher zu bemerken.
Bevor Montoya in ihre Richtung blickte, kramte sie ihr Handy aus dem Seitenfach ihrer Handtasche und rief per Kurzwahltaste ihre Schwester in Seattle an.
Zoey meldete sich beim dritten Klingeln. »Hey, hallo!«, sagte sie, da sie Abbys Nummer erkannt hatte. »Was gibt’s?«
»Ich befinde mich an einem Tatort, und ich sehe sie mir gerade an.«
»Ein Tatort?«
»Es scheint, als ob soweit alles in Ordnung ist. Ich weiß noch nicht, was vorgefallen ist, aber ich informiere dich, sobald ich etwas erfahre.«
»Warum sollte es mich interessieren? Moment mal …
Wen
siehst du dir da an?«
»Eve Renner. Und ich sage dir, Zoey, wenn Eve nicht unsere Schwester ist, weiß ich es auch nicht. Sie ist Mom wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Ich dachte immer, den Ehrentitel hättest du inne. Alle haben doch immer gesagt, du sähest ihr so unheimlich ähnlich.«
Abby konnte den Blick nicht von Eve wenden. »Ich glaube, den Titel muss ich abtreten.«
»Tatsächlich?«
»Die Ähnlichkeit ist wirklich nicht zu übersehen, Zoey. Weiß Gott nicht.«
»Aber die Ergebnisse der DNA -Analyse liegen noch nicht vor, oder?«
»Nein, noch nicht.«
»Das wäre wirklich eine merkwürdige Situation, wenn sie tatsächlich unsere Schwester ist. Weiß Dad schon davon?«
Abby dachte an ihren Vater, Jacques, der in einer Einrichtung für betreutes Wohnen dahinvegetierte, im Kampf gegen Krebs und Lungenemphysem, und an Charlene, seine zweite Frau, die vergebens versucht hatte, ihren ehemals so robusten Ehemann gesund zu pflegen, und seither selbst nur noch ein Nervenbündel war. »Ich finde, wir sollten es ihm erst sagen, wenn wir wirklich Gewissheit haben. Das Gleiche gilt auch für Charlene. Sonst dreht sie noch durch und endet womöglich bei ihm im Heim.«
Zoey schnaubte durch die Nase. »Dazu wird es niemals kommen. Aber einverstanden, wir behalten es vorerst für uns.« Es entstand eine kleine Pause. »Und … hat diese Frau – Eve? – auch Ähnlichkeit mit Dad?«
Abby studierte Eves Gesichtszüge – hohe Wangenknochen, eine kleine, gerade Nase, kurzes, lockiges rötliches Haar. Dann stellte sie sich im Vergleich dazu ihren Vater vor. »Nein«, sagte sie, und die absolute Sicherheit war wie ein Schlag in den Magen. »Nicht die geringste.«
»Lieber Himmel«, flüsterte Zoey. »Du glaubst doch nicht … Wäre es möglich, dass
er
sie gezeugt hat?«
Abby schauderte und fühlte sich von düsteren Erinnerungen eingeholt. Faith Chastain war ihrem, Abbys, Vater nicht treu gewesen, sei es absichtlich, sei es aufgrund ihrer Labilität oder auch, weil sie als Patientin im Our Lady of Virtues zu abscheulichen Dingen gezwungen wurde. Niemand wusste genau, welche Misshandlungen sie dort hatte erdulden müssen.
»Wir sollten nicht weiter darüber nachdenken«, sagte Abby ins Telefon.
»Aber falls sie nun unsere
Halb
schwester und dieser widerliche, perverse Psychopath ihr Vater ist? Was dann?«
»Zoey! Still! Hör auf damit!«
»Na schön. Dann sag du ihr, dass sie die Tochter eines psychopathischen Mörders ist.«
»Das wissen wir doch gar nicht.«
»Nun, du solltest dich aber darauf einstellen. Ich habe das Gefühl, unsere merkwürdige kleine dysfunktionale Familie wird noch entschieden merkwürdiger und wenn möglich sogar noch dysfunktionaler.«
»Ich werde mal mit ihr reden.«
»Tu das. Und wenn du schon mal da bist, bestell meinem Schwesterchen schöne Grüße von mir, ja?«
Abby ignorierte Zoeys Spott und legte auf. Für sie stand fest: jetzt oder nie. Pech, dass das Haus Schauplatz eines Verbrechens war – sie musste es wissen. Unbedingt. Abby straffte sich und ging energisch auf die Veranda zu, wo Montoya immer noch mit Eve und dem Mann an ihrer Seite sprach – einem Mann, den Abby in den
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