Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
die Frau, die sie großgezogen hatte, nachdem ihre Mutter vor fünfzehn Jahren gestorben war.
Die Panik ließ nach, und Eve konnte allmählich wieder freier atmen. In der nächsten Viertelstunde konzentrierte sie sich auf das Radioprogramm und erzählte der Katze irgendwelchen Unsinn, konnte es jedoch nicht lassen, alle paar Sekunden einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Der bedrohliche dunkle Pick-up tauchte nicht wieder auf.
Vielleicht hatte Anna Maria recht: Sie war noch längst nicht wieder sie selbst. Andererseits – würde sie je wieder ganz dieselbe sein, die sie gewesen war, bevor auf sie geschossen wurde?
Natürlich nicht.
Nicht nachdem der Mann, den sie liebte – der Mann, dem sie mehr vertraute als irgendjemandem sonst –, versucht hatte, sie umzubringen.
Sein Atem ging schnell und stoßweise.
Sein Herz hämmerte so laut, dass es sogar den Lärm des Freeways übertönte. Er klappte das gestohlene Handy zu und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Den Blick stur geradeaus gerichtet, steuerte er ganz automatisch den Wagen, doch seine Gedanken waren bei ihr. Er schwelgte in der Erinnerung an ihre Stimme, als sie sich meldete.
Hallo.
Unschuldig.
Vertrauensvoll.
Ein kleines Wort, und doch hatte es tief in seinem Inneren einen wahren Gefühlssturm entfesselt. Seine Finger schlossen sich fester um das Lenkrad, er lächelte. Sein Blut geriet in Wallung, seine Lenden spannten sich an … und dann brach die Sonne durch die Wolken. Er trat aufs Gas. Der Pick-up fuhr eine sanfte Steigung hinauf. Durch die mit toten Insekten gesprenkelte Frontscheibe sah er ihren Wagen wieder: Einen halben Kilometer vor ihm wechselte der Camry gerade die Spur und überholte zügig einen großen Lkw.
Sein Herz klopfte gegen die Rippen.
Hinter seiner Sonnenbrille kniff er die Augen zusammen, als könnte er sie auf diese Entfernung tatsächlich sehen. Er streckte die Finger am Lenkrad.
Komm schon, Baby. Nur einen Blick … Mehr will ich nicht.
Dann verschwand ihr Wagen hinter einer langgezogenen Kurve. Doch er wusste, dass er ihr nahe war, er
spürte
sie. Er wusste, wohin sie fuhr. Dennoch durfte er ihr nicht zu viel Vorsprung lassen, sondern musste sie im Blick behalten für den Fall, dass sie einen Umweg nahm.
Nein, er musste in Sichtweite bleiben.
Ohne einen Blick in den Seitenspiegel trat er das Gaspedal durch und überholte einen uralten Mercedes, der zu viel Öl verbrauchte. Schwarzer Qualm drang aus dem Auspuff.
Schneller!
Er verlor sie aus den Augen!
Er gab Gas. Sein Pick-up flog schier an einem Ford Focus jüngeren Baujahrs vorbei, aus dem so laute Heavy-Metal-Musik ertönte, dass er durch die geschlossenen Fenster die Bässe spürte.
Sein Blick war immer noch starr geradeaus gerichtet, ganz auf Eves kleinen roten Toyota fixiert.
Beim ersten Mal, in der Hütte, hatte er es verpatzt.
Sie hatte überlebt.
Doch er machte niemals den gleichen Fehler zweimal.
[home]
4.
E ve schaffte es nicht ganz bis nach Hause. Der Tank war fast leer, und ihre Blase drängte. Etwa hundert Kilometer vor New Orleans sah sie ein, dass sie einen Zwischenstopp einlegen musste, und steuerte eine Raststätte mit Tankstelle, Minimarkt, Café und einem McDonald’s Drive-in an.
Eve hielt vor einer Zapfsäule und wartete darauf, dass der Minivan vor ihr endlich abfuhr. Nachdem sie vollgetankt und anschließend ihren Wagen geparkt hatte, nahm sie Samson aus dem Transportkorb, um sein langes Fell zu streicheln und ihm Wasser aus ihrer Flasche anzubieten. Er klammerte sich an sie wie von Sinnen und rieb seinen Kopf an ihrem Kinn, während sie ihm versicherte, wie artig er sei. Als sie ihn schließlich zurück in den Korb setzte, maunzte der Kater erbarmungswürdig. »Bald sind wir da«, versprach sie, ließ ihn im Wagen zurück und schlängelte sich zwischen den abgestellten Autos hindurch zum Laden, in dem reger Betrieb herrschte. Die Leute standen in langer Schlange vor der Kasse, um ihre Tankfüllung, Mineralwasser, Zigaretten und Bier zu bezahlen. Bei den Toiletten musste Eve fast fünf Minuten lang warten, bis sie an der Reihe war. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, betrachtete sie ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Sie runzelte die Stirn, verzichtete jedoch darauf, sich zurechtzumachen. Wen störte es, dass ihr Haar zerzaust und ihr Lippenstift kaum noch vorhanden war? Sie verließ den Waschraum und den beengten kleinen Laden, in dem sie sich noch eine Tüte M&Ms, eine kleine Schachtel Aspirin und
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