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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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kurzen Augenblick vor dem Einschlafen, diesem süßen Moment, in dem nichts anderes eine Rolle spielt. Geräusche, Zwänge, all das ist in weite Ferne gerückt. Hier, erkennt sie … hier ist wirklich der Ort, an dem ihr Kopf nicht über ihre Welt herrscht.
    Während Kendall stundenlang dem Klang von Nicos Stimme lauscht, verändert sich etwas. Seine Stimme wird immer eindringlicher, tiefer, dunkler – als wäre sie in ihr drin. Ein Teil von ihr. Mit der Zeit realisiert sie, dass sie nicht einmal mehr wie Nico klingt. Und noch eine weitere Stimme mischt sich darunter, wie in einem Kanon singt sie fünfunddreißig, einhundert. Fünfunddreißig, einhundert. Aber in dieser schwebenden Welt ist das nicht mehr von Interesse. Sie ist gefangen. Und es ist ihr egal.
    Plötzlich verändern sich die Worte.
    Sie wirbeln flüsternd durch ihren Körper. Eisig und gehetzt. Stark. Mit voller Wucht.
    Komm zu mir.
Heute Nacht.
Sag es niemandem!
Nur du kannst mich retten.
    Fünfunddreißig, einhundert. In ihrem surrealen Zustand schaudert Kendall. Es ist, als wäre plötzlich alle Wärme aus dem Raum abgezogen worden. Und immer noch ist sie dort gefangen, es gibt nichts außer der neuen, seltsamen Stimme. Sie ist gefangen von dem faszinierenden Gefühl, diesem verführerischen Klang. Sie schwebt zitternd, die Kälte kommt von innen, und sie ist unfähig, sich allein davon zu lösen. Sie will es nicht einmal mehr versuchen. Sie ist eins mit der Stimme.
    Sie weiß, wie es sein wird. Sie sieht es jetzt. Hinter ihren geschlossenen Augenlidern tauchen Bilder auf: ein Schotterweg, hohes Gras, verschlungene Weinranken, ein Zaun … Hinweise darauf, wo sie hingehen muss. Sie akzeptiert es. Akzeptiert ihr Schicksal, dass sie diejenige ist, die etwas opfern muss, damit sie Nico retten kann.
    Sie sollen sie haben. Sie sollen ihren Willen bekommen. Es ist der richtige Weg.
***
    Als Marlena sie am Ende des Schultages wachrüttelt, erhebt sie sich träge und nimmt ihre Sachen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragt Marlena besorgt.
    Jacián gelingt es nicht, Kendall völlig zu ignorieren.
    »Ich bin nur so müde«, bringt Kendall undeutlich hervor. Und so ist es auch. Sie hat das Gefühl, als hätte sie eine Woche lang nicht geschlafen. Doch sie ist noch wach genug, um zu wissen, dass sie nur eine Aufgabe hat, auf die sie sich konzentrieren muss, ein Ziel, bevor alles vorbei ist. Eine Regel – sie muss heute Nacht zurückkommen, um ihn zu retten. Und sie darf es niemandem sagen.
    Sonst stirbt Nico.
    Auf ihre Bitte hin setzen Jacián und Marlena Kendall zu Hause ab. Sie läuft in ihr Zimmer und lässt sich aufs Bett fallen, um von ihrem Wiedersehen mit Nico zu träumen.
    Sie stellt sich alles vor, als sei das Pult in ihr und füttere ihre Gedanken. Die hintere Fassade der Schule mit der unverschlossenen Kellertür, durch die sie problemlos ins Schulgebäude kommt. Und der Ort, an dem Nico ist … Er ist düster und unheimlich, voller wallender Nebel. Große Bäume und dichtes Gebüsch, durch das man nicht hindurchkommt. Ein verrostetes Eisentor, begraben unter Tausenden von gewundenen, verschlungenen Weinranken.
    Bevor es dunkel wird und ihre Eltern von der Arbeit zurückkommen, rafft Kendall sich aus dem Bett hoch und geht zum Geräteschuppen, um sich die Sachen zu holen, die sie brauchen wird. Sie wählt eine Taschenlampe, eine Schaufel und eine Heckenschere und kehrt damit in ihr Zimmer zurück. Sie verstaut alles in einem Leinensack, den sie unter ihr Bett schiebt.
    Sie fühlt sich schwach, weil sie nichts gegessen hat, aber auch zu schwach, um etwas zu essen zu holen, wodurch es ihr besser gehen würde. Also bleibt sie oben, um davon zu träumen, was bei ihrem Wiedersehen mit Nico geschehen wird. Bald. Als ihre Mutter nach ihr sieht, sagt Kendall, dass sie sich nicht wohlfühlt.
    Sie zieht ihren Schlafanzug an und gibt vor, ins Bett zu gehen.
    Komm zu mir , klingt es in ihren Ohren.
    Sie schläft nicht.
    Um elf Uhr, als ihre Eltern fest schlafen, steht Kendall auf und nimmt den Leinensack. Am Fenster bleibt sie stehen, zögert und winkt Nicos Haus ein letztes Lebewohl zu.
    »Wir sehen uns bald«, flüstert sie.
    Sie schleicht aus dem Haus, schließt die Tür hinter sich und zieht sich draußen auf der Treppe ihre Stiefel an.
    Kalter Wind schlägt ihr ins Gesicht. Es riecht nach Schnee. Der Wind erschüttert ihren Körper, beinahe genug, um ihr Gehirn in Alarmzustand zu versetzen. Etwas nagt an ihr, als solle sie lieber nicht allein hier draußen

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