Cryer's Cross
herumlaufen, aber sie schiebt den Gedanken beiseite. Sie wird jetzt Nico retten. Das ist ihr Ziel. Leise sagt sie es vor sich hin, während sie immer einen Fuß vor den anderen setzt, immer einen Fuß vor den anderen.
»Ich werde jetzt Nico retten. Ich werde jetzt Nico retten.«
Ihr Blick ist starr auf ihre Stiefel gerichtet, während sie stolpernd weitergeht.
Doch sie überquert das Feld entschlossen und hält sich von der Straße fern, um nicht gesehen zu werden. Sag es niemandem. Zwanzig Minuten später hebt sie die Kellerluke hinter der Schule hoch und betritt einen Gang aus gesprungenem Beton. Ihre Haare streifen niedrig hängende Spinnweben. Sie geht vorbei am Lagerraum, wo sie die riesigen Schatten von ungenutzten Ersatztischen bedrohen. Dann steigt sie die Treppe zum Hauptgeschoss hinauf und betritt das Klassenzimmer. Sie wischt sich ein Spinnennetz aus dem Gesicht und bleibt vor Nicos Pult stehen.
Sie zittert unkontrolliert in ihrem Pyjama. Einen kurzen Augenblick lang zögert sie, und ihr Gehirn ruft ihr die Bilder vor Augen, als sie beim Fußballspielen mit Jacián zusammengestoßen ist, nachdem sie das letzte Mal an Nicos Pult gesessen hatte. Macht sie vielleicht einen Fehler?
»Nein!«, ruft sie in den dunklen Raum und schiebt die Erinnerung beiseite. Sie muss Nico retten – sie muss! Vorsichtig streicht sie mit den Fingern über den Tisch, um die Stelle herum, wo sich die Schrift verändert. Sie legt die Hand darüber, als wolle sie die Worte wie Medizin in sich aufnehmen. Im Dunkeln kann sie die Botschaft nicht lesen, aber das Flüstern sagt ihr alles.
Scharf und zornig, voller Bosheit, stellt die Stimme ihre Forderungen. Die eingeritzten Worte brennen wie Stromschläge an ihren Fingern.
Such mich, bevor sie mich umbringen!
Tief in den Wäldern hinter Cryer’s Pass.
Beeil dich! Rette meine Seele!
Kendall keucht und reißt die Hand fort. Es brennt an ihren Fingern.
»Nico?«, fragt sie die zornige Stimme. »Warum sprichst du so mit mir?«
Doch sie bekommt keine Antwort.
Und er ist in Gefahr.
Kendall weiß, dass sie gehen muss.
Sie stolpert wieder zurück, verlässt den Keller und geht die Straße entlang. In Cryer’s Cross schläft alles. Ihr Morgenmantel flattert um ihren Körper, und der Wind pfeift durch den dünnen Stoff. Ihre Füße, die barfuß in den Stiefeln stecken, sind eiskalt. Von einem neuen Instinkt geleitet, beginnt sie zu rennen. Die Stimme in ihr summt zufrieden. Sie presst den Leinensack mit ihrem Werkzeug fest an sich. Hinter Hectors Ranch kürzt sie ab, um außer Sichtweite des Hauses zu bleiben, und nimmt dann den Pfad, den sie mit Jacián zusammen geritten ist. Sie folgt ihm ein kurzes Stück bis zu einer Gabelung, nimmt den anderen Weg und rennt, so schnell sie kann, stolpernd und mit klappernden Zähnen. Ihre Haut brennt und juckt von dem beißenden Wind, ihre Beine schmerzen wegen der unbequemen Stiefel.
Nach einer gefühlten Stunde erreicht Kendall den Cryer’s Pass, eine Straße für Quads oder Pferde, die sich den Bergrücken hinaufschlängelt. Sie hat Seitenstechen. Anstatt über den Pass zu gehen, biegt sie abrupt in den Wald ab. Immer noch rennt sie, springt über Büsche, Wurzeln und Weinranken, bis sie stolpert und auf ihren Beutel fällt. Die Heckenschere bohrt sich durch den Stoff in ihren Oberarm. Einen Moment bleibt sie wie betäubt sitzen und ringt nach Atem, aber sie hat keine Zeit, danach zu sehen, keine Zeit, die Blutung zu stoppen. Kendall steht wieder auf und stolpert durch den Wald.
»Nico!«, schreit sie. »Nico, wo bist du?«
Wieder beginnt sie zu rennen, doch bald wird das unmöglich. Also geht sie langsamer weiter, ungelenk und unter Schmerzen zwängt sie sich durch Gebüsch und den Wald, der so dicht ist, dass sie beinahe auf Bäume klettern und sich von Ranke zu Ranke schwingen muss, um weiterzukommen.
»Nico!«, schreit sie. Die Stimme in ihrem Kopf wird lauter.
Finde mich, bevor er mich umbringt! Fünfunddreißig, einhundert.
Ihre Arme und Beine sind zerkratzt und brennen. Sie knickt um und fängt sich wieder, schwach vor Hunger, gestärkt durch die Stimme, die von ihr Besitz ergriffen hat. Als der dichte Wald ihr endgültig den Weg versperrt, beginnt sie, mit der Heckenschere Efeu und Zweige zu zerschneiden und aus dem Weg zu zerren. Sie schneidet und hackt und reißt und drückt die Schere zusammen, bis sie auf Metall stößt.
»Nico!«, schreit sie. »Nico!«
Wir
Die Wärme, das Leben. Fünfunddreißig, einhundert. Ihr
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