Cryer's Cross
Herzschlag in Unseren Ohren. »Komm jetzt!«, rufen Wir. Ein Teil von Uns ist nun in ihr. Dieses Opfer, das unbequemste bis jetzt. Hier. Jetzt. Bereit, eine weitere verlorene Seele zu erlösen, zu befreien. Fünfunddreißig?
Nein.
EINHUNDERT.
24
Sie stolpert, als sie versucht, sich durch den Spalt zu zwängen, den sie zwischen den rostigen Eisenstäben in den Efeu und Wein geschnitten hat. Doch endlich schafft sie es, steht wieder auf und sieht sich im gespenstischen Mondschein um.
Hier sind weniger Bäume. Kleinere. Und das Gelände ist nicht ganz so überwuchert. Im Licht des Halbmondes kann Kendall ein großes, verfallenes Gebäude zu ihrer Linken erkennen und noch näher einen kleinen, eingestürzten Schuppen.
Sie nimmt die Taschenlampe und leuchtet umher. Sie befindet sich in einem Innenhof, der allerdings durch einen Eisenzaun vollständig umschlossen und sogar von den Gebäuden abgetrennt ist. In den Senken hinter dem Garten ruhen Nebelschwaden. Ein Vogel fliegt kreischend an ihr vorbei. Sie hört das Knarren der Bäume und das Rascheln anderer Tiere.
Rechts von ihr stecken zwei Dutzend weiße Markierungen im Boden. Kendall schwankt, sie fühlt sich durch die Macht der Stimme in ihr zu ihnen hingezogen. Zuerst widersetzt sie sich dem Befehl, verwirrt, doch dann gehorcht ihr Körper ruckartig. Ihre Beine sind schwer. Taumelnd schleppt sie sich über Erde und Sträucher.
Die Stimme gibt ihr Befehle. »Fang an zu graben«, wiederholt sie flüsternd und überrascht. »Fang an zu graben? Wo? Wo?«
Sie nimmt die Schaufel aus dem Beutel, die sie in die Mitte des Gartens führt, wo die Kreuze stehen.
»Nico!«, ruft sie. »Wo bist du?«
Sie hat jegliche Kontrolle über ihren Körper verloren. Mit den Stiefeln schiebt sie Äste und Blätter beiseite und legt die Erde frei.
Dann hebt sie die Schaufel und stößt die Spitze direkt vor einer der Markierungen in die Erde. Ihre kalten Hände schmerzen, und der Aufprall scheint bis in ihre Knochen widerzuhallen, doch sie stößt wieder zu, reißt die Erde auf und beginnt zu graben. Sie kann einfach nicht aufhören.
Die ausgehobene Erde häuft sie sorgfältig neben dem Loch auf. Nach ein paar Minuten tut ihr verletzter Arm weh. Ihre Hände zittern.
»Nico!«, ruft sie erneut, doch ihre Stimme verhallt, ohne dass sie eine Antwort erhält. Sie fängt an zu weinen, schreit immer lauter nach ihm, immer und immer wieder, während sie die Erde anhäuft. Ihr Rücken schmerzt. Sie zittert, ihre Zähne klappern, und doch stößt sie die Schaufel wieder in den Boden. Und wieder. Und wieder.
Als sie auf Knochen trifft und ein Stück davon mit der Schaufel aushebt, weiß sie, dass sie tief genug gegraben hat. Sie weiß jetzt, was sie zu tun hat, zu was die Stimme sie zwingt, damit sie Nico retten kann. Sie fällt auf die Knie. Ihre Stimme ist schon ganz heiser, dennoch ruft sie weiter seinen Namen.
»Ich bin hier, um dich zu retten! Nico, hilf mir!«
Sie setzt sich in das flache Grab, das sie gerade ausgehoben hat. Dann legt sie die Arme um die Erdhaufen, die sie daneben aufgeschichtet hat und zieht sie über sich, bedeckt Füße und Beine.
Entsetzt sieht sie sich selbst zu. Ein Teil von ihr kann nicht glauben, was sie tut, während ein anderer Teil es gar nicht schnell genug tun kann.
Sie begräbt sich lebendig.
Und sie kann nicht aufhören.
Langsam und methodisch, gleichzeitig entsetzt und euphorisch bedeckt sie ihren Körper mit Erde. Sie beginnt zu singen.
»Hilf mir. Rette meine Seele. Hilf mir. Rette meine Seele.«
Während sie ihre Oberschenkel und den Bauch mit Erde bedeckt, wird ihr Gesang zu Geschrei. Die Erde isoliert und wärmt sie. Sie beruhigt ihr Zittern, aber nicht ihre Schreie. Sie legt sich zurück und bedeckt ihre Brust, ihren Hals mit Erde. Sie schreit nach Nico, schreit, bis ihre Stimme erstickt wird von der Erde, die sie über ihr Gesicht wirft. Über der Erde ist nur noch ihre Hand zu sehen.
Und dann – als der Halbmond hinter dem verfallenen Gebäude verschwindet – ist plötzlich alles, wirklich alles wieder still auf dem Friedhof der Cryer’s Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter.
Eine gefangene Seele wartet auf ihre Erlösung.
Sie wartet. Und wartet.
Darauf, dass sie ihren letzten Atemzug tut.
25
Es ist immer noch dunkel, als sich die Erde bewegt.
Kendall ringt nach Luft. Sie spürt, wie sich in ihrem Kopf etwas regt. Sie weiß, dass irgendetwas an all dem furchtbar falsch ist. Die Stimmen haben gesagt, dass sie all
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