Cryer's Cross
Kendall schüttelt den Kopf und tadelt sich selbst in abgehacktem Flüstern, während sie hin- und hersprintet. Sie sieht ihn an. Aufhören. Aufhören. Aufhören. Einfach weiterlaufen.
Sie schlägt alle. Das ist noch nie passiert, aber Kendall ist heute in Höchstform. Jacián kommt als Zweiter ins Ziel. Eli wird Dritter, obwohl Marlena noch an seinem T-Shirt zieht, um ihn zu überholen. Nico ist nicht ganz bei der Sache und schafft nur den vorletzten Platz. Jacián geht keuchend an ihr vorbei.
Kendall grinst triumphierend, bevor sie vom halben Team zu Boden gerissen und darunter begraben wird. Sie ringt lachend nach Luft und versucht, ihr Gesicht vor den umherwirbelnden Beinen und Armen zu schützen. Kurz erhascht sie einen Blick auf Jacián, der den jubelnden Haufen aus sicherer Entfernung beobachtet. Seine Augen starren Kendall unverhohlen an. Sie windet und dreht sich und entdeckt Nico, der jedoch abwesend ins Leere blickt.
Kendall befreit sich aus dem Haufen, kurz bevor der Ruf des Trainers ertönt. Zurück zum Training.
***
Um 23:05 Uhr ruft Kendall bei Nico an.
»Was ist los mit dir?«
»Hm?«
»Du hast vergessen anzurufen. Das vergisst du doch sonst nie.«
»Oh. Äh … Ich habe wohl die Zeit vergessen. Ich muss über einiges nachdenken.«
»Willst du darüber reden? Bitte? Du machst mir langsam Sorgen.«
»Nein. Nein, danke. Ich muss weg.«
»Aaaha …«
»Gute Nacht, Kendall.«
Kendall nimmt das Telefon vom Ohr, starrt es kurz an und hält es sich wieder ans Ohr. »Machst du Witze?«
Doch sie hört nur ein Freizeichen. Ihr Magen verkrampft sich. Nico hat einfach aufgelegt.
»Verdammt, du Mistkerl! Diese College-Sache muss ja enorm wichtig für dich sein.«
Sie versucht, ihn noch mal anzurufen. Fünfmal.
Doch alles, was sie hört, ist ein Besetztzeichen.
Sie prüft sechsmal den Fensterriegel und sieht dabei über die Felder. Zu Nicos Haus.
Alles ist dunkel.
Kendall zittert.
Wir
Berühre Unser Gesicht, und du wirst Uns wieder hören. Du wirst dich wundern. Du wirst Uns Einlass gewähren in deinen Verstand. In deine Gedanken. In deine Seele. Wir flüstern dir zu mit einer einzigen, zarten Stimme … der Stimme, die du hören willst. Du kennst diese Stimme.
Du vermisst sie.
Du willst sie retten.
6
Die erste Schulwoche ist fast vorüber. Die unfassbare Abwesenheit von Tiffany Quinn ist fast vergessen, ersetzt durch neue Aufgaben, neue Schüler und das Bedürfnis nach einem normalen Leben. Kendall führt ihre morgendlichen Routineaufgaben durch – Papierkorb, Kreide, Fenster, Tische –, und alles ist gut. Fast alles.
Jacián spricht immer noch nicht im Unterricht, es sei denn, Ms Hinkler stellt ihm eine Frage.
Und Nico verliert sich immer mehr in seiner eigenen Welt und scheint Kendall kaum noch wahrzunehmen.
Er will nicht darüber sprechen.
Ihre Gedanken spielen verrückt.
»Nico.« Es ist Mittag, und sie sitzen draußen im Gras. »Liegt es an mir? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«
Er starrt in den Himmel. Seine Lippen bewegen sich, doch es kommt kein Laut aus seinem Mund.
»Nico?«
Er dreht sich zu ihr. »Was?«
Kendall beißt sich auf die Lippe, und Tränen treten ihr in die Augen.
»Was ist los mit dir? Am Montag warst du noch ganz normal, und jetzt bist du auf einmal total komisch.«
Er schüttelt nur den Kopf. »Es ist nichts.«
»Fahren wir morgen immer noch nach Bozeman?«
»Bozeman … Oh ja. Ja, natürlich.«
»Bist du vielleicht böse auf mich?«
Er sieht sie einen Augenblick lang an, als versuche er, ihre Frage zu verstehen, und nimmt dann ihre Hand.
»Nein, Baby. Ich liebe dich. Wie immer.« Er sieht ihr in die Augen und zieht ihre Hand an seine Lippen. Doch sein Blick ist leer. Er küsst ihre Fingerknöchel, lässt ihre Hand fallen, steht auf und geht wieder in die Schule.
***
Freitags ist kein Fußballtraining – nicht bevor die Spielsaison beginnt. Nach der Schule geht Nico ohne Kendall nach Hause. Ungläubig starrt sie ihm nach, dann dreht sie sich um und geht die Straße entlang in die Stadt.
Die »Innenstadt« von Cryer’s Cross besteht aus einer Kreuzung mit einer Handvoll Läden, einem Restaurant und einer großen Markthalle, die das ganze Jahr über alle Veranstaltungen beherbergt, für die man viel Platz benötigt. Kendall steigt die Treppe zur Drogerie hinauf. Sie braucht dringend Tampons.
Auf der Veranda vor dem Gebäude sitzen auf ausgebleichten Holzstühlen der alte Mr Greenwood und Hector Morales. Kendall lächelt und winkt. Bei
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