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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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anderes Geflüster, das immer lauter wird.
    »Noch einer. Was passiert in unserer behüteten kleinen Stadt? Alle Kinder verschwinden.«
    Kendall versucht vergeblich, das Flüstern auszublenden.
    Sie schafft es gerade, zu atmen. Und zu zählen.
    Sie zählt Atemzüge. Sechsunddreißig. Steine in der Erde. Über fünfzig. Leute zählen, die dumme Dinge sagen: Das tun alle.
    Die Tage zählen, die sie ihn schon kennt: unendlich viele.
    Vielleicht kommt er zurück, bevor sie mit dem Zählen fertig ist.
    Vielleicht aber auch nicht.
    Das Gemurmel der Leute wird immer lauter, sodass Kendall nicht nachdenken kann. Bei so viel Ablenkung kann sie nicht zählen. Sie steht auf, drängt sich durch die Menge und schreit: »Aufhören! Aufhören! Aufhören! Hört doch alle einfach auf!« Ihr Blick ist tränenverschwommen.
    Jemand packt sie am Arm, doch sie reißt sich nur blind los und rennt, rennt wie der Teufel. Rennt fast den ganzen Weg bis nach Hause, bis ihre Füße nicht mehr weiterwollen. Sie stolpert, stürzt und schürft sich Hände und Knie auf dem rauen Asphalt auf. Sie bleibt einfach liegen und spürt einen riesigen Schwall von Schmerzen, der durch ihren Körper fährt. Sie ist so dankbar für den Schmerz, weil er ihr hilft, etwas zu fühlen. Er befreit etwas in ihr. Sie schluchzt. Hier draußen im Schotter neben der Straße vor Nicos Farm schluchzt sie. Unter dem alten Briefkasten, in den sie immer Nachrichten für ihn gesteckt hat, während die Grashüpfer und Bienen hektisch um sie herumfliegen und summen.
    Kurz darauf hört sie Schritte. Als sie neben ihr anhalten, hebt sie den Kopf und sieht blinzelnd in die Sonne. Wieder beginnt ihre Unterlippe zu zittern.
    »Mum.«
    »Ich kann nicht so schnell laufen wie du«, erwidert ihre Mutter. »Aber zumindest bist du in die richtige Richtung gerannt.«
    Langsam steht Kendall auf. Sie versucht sich die Steinchen von den Händen und Knien zu reiben, erfolglos. Wieder weint sie und gibt auf dagegen anzukämpfen, als Mrs Fletcher sie schließlich in die Arme nimmt.
    »Komm mit hinein«, fordert ihre Mum sie sanft auf. »Dann machen wir dich sauber. Sheriff Greenwood kommt in ein paar Minuten. Er möchte mit dir reden.«
    Kendall horcht auf. »Warum?«
    »Er will nur wissen, wer zuletzt mit Nico gesprochen hat. Niemand hat gesagt, dass du irgendetwas getan hast. Sie gehen davon aus, dass er gestern Abend spät aus dem Haus gegangen ist.«
    »Warum sollte er das tun?« Kendall humpelt die lange Auffahrt zu ihrem Haus entlang. »Ich glaube, mir platzt gleich der Kopf. Meine Zwänge spielen verrückt.«
    »Ich weiß, Liebling. Es ist schwer. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, nicht wahr? Er ist ein starker Junge. Er kann auf sich aufpassen. Wir müssen nur herausfinden, was passiert ist. Und wo er ist.«
    Kendall nickt. Im Haus angekommen, macht sie sich daran, ihre Wunden zu säubern. Mrs Fletcher schaltet die Nachrichten ein, aber es gibt noch nichts über Nico. Es dauert halt eine Weile, bis sich so etwas von hier draußen bis in die zivilisierte Welt verbreitet.
    Kurze Zeit später trifft Sheriff Greenwood ein und nimmt seinen Cowboyhut ab. Er ist nicht alleine gekommen, doch seinen Begleiter hat Kendall nie zuvor gesehen.
    »Guten Tag, Mrs Fletcher, Kendall. Das ist Sergeant Dunne von der Montana State Police. Er soll uns helfen, Nico zu finden.«
    »Bitte setzen Sie sich.« Mrs Fletcher deutet zum Esstisch. Sie holt aus der Küche Tassen, Untertassen und die Kaffeekanne und schenkt ein, als kämen die beiden Polizisten täglich zum Kaffeetrinken.
    Nachdem alle am Esstisch Platz genommen haben, holt Sheriff Greenwood sein Notizbuch heraus.
    »Lasst uns aus Zeitgründen möglichst gleich zur Sache kommen, ja?« Ohne aufzusehen, fährt er fort: »Nun, Kendall, kannst du deine Beziehung zu Nico Cruz beschreiben?«
    Kendall ist plötzlich verwirrt.
    »Wie meinen Sie das? Wir sind Nachbarn, beste Freunde seit unserer Kindheit. Das wissen Sie doch.«
    Sergeant Dunne neigt sich vor und fragt: »Geht ihr miteinander?«
    »Ja, ich denke schon. Ich meine, wir gehen nicht so viel zusammen aus, aber ja … irgendwie schon.«
    Sergeant Dunne nickt. »Er ist also dein fester Freund?«, hakt er nach.
    »Nein. Ich meine …« Kendall sieht hilfesuchend zu ihrer Mutter.
    »Diesen Ausdruck verwendet Kendall nicht so gerne, weil sie das Gefühl hat, es klinge zu sehr nach Verpflichtung, aber ja, so wie die Sache hier liegt, kann man sagen, dass Nico Kendalls fester Freund ist.« Mrs

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