Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
größte Stück Fleisch zustand. Und was würde, fragte er sich weiter, aus Boris, dem besten Zimmermann und Tischler im Dorf? Was, wenn er genug davon hat, die allgemeine Ration zu gleichen Portionen mit den Viehzüchtern zu teilen, und für jeden Hocker Bezahlung verlangt? Oder wenn man die Kinder nur noch gegen Bezahlung ausbildet. Wie lange hält diese Urgesellschaft sich dann wohl noch? Und was, wenn eure Kinder mal in die Stadt können, vor der ihr solche Angst habt? Was, wenn sie dann nicht sterben, wie ihr alle immer glaubt – sondern es ihnen dort gefällt? Okay, die Städte heute sind nicht mehr erste Sahne, da gibt’s keine Theater, keine Museen oder was auch immer mehr. Aber für ein paar aufsteigende Kapitalisten dürften sie selbst dann noch ihre Reize haben …
»In einem Monat reiten wir wieder in den Norden«, erklärte Berder und packte ein Wolfsjunges im Nacken, das unter dem Tisch herumtollte. »Drei Schüler werden uns begleiten. Die Hüterin erwartet dich, um das Buch fortzuschreiben. Danach sprechen wir über Moskau.« Er verbot Artur mit einer energischen Geste den Mund. »Wenn das Kind keinen Vater mehr hat, werden die Ältesten im Dorf entscheiden, wer es aufzieht.«
»Und was, wenn der Vater weggeht und wiederkommt?«, fragte Artur mit gesenkter Stimme, aber Berder las ihm die Worte ohne Mühe von den Lippen ab.
»Solange der Vater lebt, hat niemand ein Recht auf seine Frau und seine Kinder.«
»Ach ja?!«, zischte Artur. »Hast du mir nicht gesagt, Nadja muss noch mit zwei anderen Kindern schwanger werden?«
»Nicht unbedingt!«, antwortete Berder und sah Artur fest in die Augen, während er dem Wolfsjungen die Hand ins Maul schob. »Denn wir selbst schreiben das Buch. Und wenn wir es dann lesen, wird die Schrift zum Gesetz. Du sprichst mit der Hüterin und entscheidest selbst, wie du dich verhältst.«
Diese Schweine!, dachte Artur, als er sich den nächsten Glückwunsch anhörte. Diese absolut miesen Schweine! Sie hatten ihm eine Falle gestellt, und er war hineingetappt. Jetzt, da er keine Angst mehr hatte, allein das halbe Land zu durchqueren, da der Wald ihm vertraut war und kein Lebewesen ihn auf seinem Weg in die Hauptstadt aufhalten könnte, hatten diese Arschgeigen von Wippern ihr Ziel erreicht.
Er würde nach ihrer Pfeife tanzen.
Denn jetzt hatte er etwas zu verlieren.
(23)
ÜBER DIE KUNST, EIN BUCH ZU SCHREIBEN
»Erzähl mir von ihr«, verlangte Mam Rita und nahm einen Zug aus ihrer Wasserpfeife. Dass sie blind war, machte sie mit einem übernatürlichen Orientierungssinn und einem mehr als feinen Gehör wett. Allein daran, wie die Feder übers Papier kratzte, stellte sie sofort fest, dass einer ihrer Schüler einen Fehler gemacht hatte. Und wer von ihnen. »Du erinnerst dich zu oft an sie, Erwachter Dämon, deshalb findest du dein Gleichgewicht nicht. Erzähl mir also von ihr. Ich verspreche auch, dich mit klugen Ratschlägen zu verschonen.«
Zu seiner eigenen Überraschung fing Artur tatsächlich an, seine Geschichte zu erzählen. Ein ganzes Jahr hatte er geschwiegen, um die Wunden nicht wieder aufzureißen. Denn wenn ihn selbst damals, im Institut, niemand verstanden hatte, dann könnte er es sich jetzt ja wohl erst recht sparen, ein paar lausigen Wilden mit den Schmerzen aus seinem vergangenen Leben zu kommen.
»Sie … Wir haben uns bei meiner Verteidigung kennengelernt … äh, also, ich meine … wie soll ich das bloß erklären? Aber gut, das spielt letztlich keine Rolle. Ich war ein Buchmensch, ein Wissenschaftler, ich habe mit Leuten zusammengearbeitet, und wir haben uns überlegt, wie man die Menschen durch Kälte heilen könnte und was man anstellen müsste, damit jemand für viele Jahre einschlafen kann und trotzdem ohne jeden gesundheitlichen Schaden wieder aufwacht. Verstehst du das? Und Natascha war eine Studentin, sie hat ihr Diplom geschrieben … Mist, schon wieder diese unverständlichen Wörter!«
»Keine Sorge«, sagte Mam Rita sanft. »Sprich nur, wie es dir in den Sinn kommt, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen.«
»Also gut. Wir haben uns ein paarmal getroffen, irgendwann sind wir zusammengezogen. Die ganze Geschichte fing mit meiner Mutter an … das heißt, nein, so kann man das auch nicht sagen. Im Grunde ist alles meine Schuld. Wir konnten nicht bei Natascha wohnen, weil es dort zu eng war. Außerdem hatte ihr Vater selbst erst vor Kurzem wieder geheiratet, nachdem ihre Mutter gestorben war … kurz und gut, es war alles nicht so
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