Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
seinen täglichen Pflichten gehörte die Arbeit auf den Feldern und die Jagd, aber das galt mit Ausnahme der Ältesten für alle Dorfbewohner. Und schließlich hätte auch alles ganz anders kommen können, dann hätte er vielleicht nicht in einem einzimmrigen Haus gewohnt, sondern in einer feuchten Baracke unter der Aufsicht eines hungrigen Krokodils. Sollten Ismail und Berder also ruhig ihre abgedrehten Träume haben, was seine Person anging – Hauptsache, er eckte nicht an, alles andere würde sich schon finden. Hauptsache, er überlebte den Winter, vergaß das Alphabet nicht, verwandelte sich nicht in ein Tier …
Er gab der schlafenden Nadja einen Kuss. Wann immer er auftauchte, sei es nun tief in der Nacht oder früh am Morgen, stand sie auf und holte einen in ein Tuch eingeschlagenen Topf aus dem Ofen. Selbst wenn sie krank war, warteten heißes Wasser für ein Bad und ein sauberes Bett auf ihn – davon brachte selbst er sie nicht ab; dazu hatte Nadjas Mutter mit ihrer Erziehung zu solide Grundlagen gelegt.
Überhaupt: er und die Frauen. Ob Natalja und er damals nur so viele Probleme miteinander gehabt hatten, weil es zu viel freie Zeit gegeben hatte? Zeit, in der sie sich selbst analysierten und gegenseitig kritisierten? Je weniger wir über die Liebe nachdenken, desto stabiler ist unsere Familie, dachte der frischgebackene Polygamist mit einem Grinsen auf den Lippen. Die Menschen sind zu den natürlichen Beziehungen zurückgekehrt, und es besteht kein Bedarf mehr an Psychoanalytikern, denn für Neurosen bleibt gar kein Raum, wenn alle den ganzen Tag beschäftigt sind. Nadja ist zwar vielleicht nicht glücklich, dafür aber vollauf zufrieden. Und sie ist von mir schwanger … Bin ich glücklich? Weiß der Teufel. Viel miteinander reden tun wir ja nicht, schicke Ferienorte und Modeschauen wird es hier in den nächsten tausend Jahren auch nicht geben …
Nach der ersten Reise in den Norden nahm Artur an siebzehn großen und vierzig kleinen Jagden teil. Irgendwann im Winter, als er mit den Hunden durch die Schneewehen stapfte, spürte er zum ersten Mal eine Bärenhöhle auf. Das war, als habe er plötzlich eine Fremdsprache oder das Schwimmen gelernt. Von diesem Tag an ging er allein in den Wald, ohne Hunde. Jetzt hatte er keine Angst mehr, denn nun konnte er hören . Er wusste, wie er die Augen schließen musste, um sich in jenen Trancezustand zu bringen, in dem er den Herzschlag aller Säugetiere und Vögel wahrnahm. Prochor der Zweite hatte ihm beigebracht, sich jedes Tier gefügig zu machen. Das war wesentlich schwieriger, als sich vor den Steinen in Sicherheit zu bringen. Doch als auf seinen Befehl hin zum ersten Mal ein Eichhörnchen von einem Baum sprang und eine Minute auf seiner Schulter hockte, hätte er vor Freude fast geheult. Genau damit hatte er allerdings jenen feinen Faden gekappt, der den Nager an ihn band. Das Eichhörnchen biss ihn und schoss wie ein Pfeil den Baumstamm hoch. Trotzdem war er glücklich. Prochor der Zweite grinste nur in seinen Bart.
Bis Artur auch einem Schuppentier seinen Willen aufzwingen konnte, vergingen drei weitere Monate. Danach dauerte es noch ein halbes Jahr, bis auf seinen Ruf hin ein Bär aus dem Windbruch herausstapfte und sich zu seinen Füßen niederlegte.
Doch auch die Stunden bei Anna der Ersten trieben ihn zur Verzweiflung. Wie ein kompletter Idiot kam er sich vor, wenn er bis zu vier Stunden vor ihr sitzen musste, mit irgendeinem vertrockneten Grashalm in der Hand, den er zum Blühen bringen sollte. »Wäre ich doch bloß in einem Jahrhundert aufgewacht, wo es noch anständige Magie gab! In einem Jahrhundert voller Zaubersprüche und fieser Kobolde«, klagte er dann abends Nadja gegenüber. Diese widersprach ihm nicht, obwohl sie ihre Zunge vortrefflich zu gebrauchen wusste. Nur eben nicht für Gespräche. Bei Anna der Ersten blieben die Gräser in seiner Faust aber nach wie vor tot und trocken, denn seine Lehrerin brachte ihm weder Zauberei noch entsprechende Sprüche bei: Heu musste man mit Willenskraft in frisches Gras zurückverwandeln …
Schon morgens, wenn er per Hand fliegende Pfeile auffangen musste, dachte er an diese verfluchten Grashalme. Nachts, wenn er mit gefesselten Händen mit Peitschen bewaffneten Reitern entkommen musste, fielen sie ihm ein. Wenn er lernte, das Lasso zu werfen und im regennassen Wald ein Feuer zu entzünden, verfluchte er sie. Tausendmal rammte er den trockenen Grashalm in den Schnee, obwohl er wusste, dass er
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