Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
Sack zwischen den Lungen noch reichen würde. Um ihn zu füllen, hatte Prochor seinem Liebling eine Woche lang jeden Abend einen geheimen Kräutersud zu trinken gegeben. Die Synthese in ihrem Organismus war erst am fünften Tag abgeschlossen.
»Nun komm schon! Hoch mit dir!«
Malwina war jedoch mit sich beschäftigt. Fauchend ließ sie sich auf die malträtierten Pfoten nieder. Eine der Lederplatten am Flügel war aufgeschlitzt worden, unter dem Schuppenpanzer schimmerten auf der einen Seite purpurrote Fleischfetzen hervor. Artur nahm erst einmal den Dolch an sich, der an ihrem Sattel hing. Damit fühlte er sich schon wesentlich sicherer. In diesem Moment stürmte eine Kuh auf sie zu. Wie um alles in der Welt kommt die denn hierher?, wunderte sich Artur. Das pralle Euter baumelte ihr schwer zwischen den Beinen, an einem Schulterblatt prangte ein dreieckiges Brandzeichen und um den Hals trug sie eine Schnur. In ihren blutunterlaufenen Augen lag eine solche Wildheit, dass Artur ganz unruhig wurde. Die Hörner vorgestreckt, raste die Kuh heran – und es war ihr offenbar scheißegal, was sie da vor sich hatte, eine Drachin oder ein Malteserhündchen. In diesem Moment griff auch noch ein Hund Malwina an, was der Kuh alle Chancen gab, der Drachin die Hörner in die Seite zu rammen, die Schuppen bedeuteten bei einer solchen Wucht keinen Schutz mehr. Die Drachin stieß einen wahnsinnigen Schrei aus, ruckte dann so heftig mit dem ganzen Körper, dass sie der Kuh, die mit den Hörnern in ihrer Flanke feststeckte, den Hals brach.
»Jetzt wird’s echt Zeit! Hoch mit dir!«, redete Kowal auf die Drachin ein und drückte ihr zum weiteren Ansporn die Fersen in die Seite. Endlich vernahm er ihr leises mentales Echo in seinem Kopf. »Komm, meine Kleine, rauf mit dir!«, bat er, während er ihr zwei Krallen aus dem Fleisch zog.
Malwina breitete die vier Flügel aus und erhob sich aus dem Stand in die Luft. Da Artur das rechte Bein nicht in die Sattelhose gesteckt hatte, rutschte er gefährlich zur Seite. Sich wieder aufzusetzen war nicht ganz einfach, konnte er doch nur die linke Hand bewegen. Die rechte hatten die Hundezähne zuverlässig ausgeschaltet. Inzwischen sickerte zwar kein Blut mehr aus der Wunde, aber bei jeder Bewegung schossen ihm Schmerzen von den Zehenspitzen bis hinauf in den Nacken.
Sobald er sicher im Sattel saß, lenkte er die Drachin an dem wütenden Vogelschwarm vorbei. Trotzdem schien sie für einen Moment zwischen zwei lebenden pulsierenden Wolken eingeklemmt: den fliehenden Menschen unten im Gorki-Park und der Horde gefährlicher Gegner über ihnen in der Luft.
Als sie dieser Zange entkommen waren, holte Artur erst einmal die Flasche mit Wasser heraus und gab unter höllischen Schmerzen etwas davon auf seine verklebten Wimpern. Der Anblick, der sich ihm dort unten bot, war schrecklich, zugleich aber auch atemberaubend schön. Der Gorki-Park tobte im Mondlicht wie ein Tier im Todeskampf. Die Welle der Beben hatte inzwischen die Mitte des Flusses erreicht und stiftete das ölig schimmernde Wasser an, über die gegenüberliegende Pretschistenskaja-Uferpromenade herzufallen. Der Park selbst sah aus, als wäre ein Meteorit in ihm niedergegangen. Die entwurzelten Bäume formten am Boden eine Spirale, wobei die Kronen bei allen nach außen wiesen. Ein Tornado, wie er hier, im Zentrum Russlands, noch nie aufgezogen war, zerrte an den Zweigen, trieb Wolken von Schmutz und Bauschrott in die Luft und riss sogar den Erdboden auf. Auf diesen Gräbern toter Pflanzen würden schon bald junge dichte Triebe sprießen.
Die Kirche des Heiligen Nikolaj neigte sich in einem Winkel von zwanzig Grad und drohte, sich in der nächsten Sekunde in ihre Bestandteile aufzulösen. Von der Ausstellungshalle war ohnehin nichts mehr übrig, ebenso wenig wie von den Wohnvierteln im Osten. Menschen zu Fuß und zu Pferd drängten wie wild durch die Straßen, deren Asphalt bereits zersplitterte und einkrachte. Irgendwo stießen zwei Autos zusammen und gingen in Flammen auf. Artur brach in ein krampfhaftes, nervöses Lachen aus: Das war garantiert der erste ernst zu nehmende Verkehrsunfall seit hundert Jahren.
Als er Malwina Richtung Kreml lenkte, konnte er sich überzeugen, dass die Erde hier zwar noch nicht bebte, dafür aber ein fürchterliches Chaos tobte. Auf dem Roten Platz brannten Dutzende von Lagerfeuern, minütlich kamen neue hinzu. Durch die Wosdwishenska und die Twerskaja strömten die Flüchtlinge weg von diesem historischen
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