Cryptonomicon
erzählen, dass er Eutropianer geworden ist?«
Cantrell: »Nicht ganz. Es ist eher so, dass er in der Eutropia-Bewegung ein Schisma entdeckt hat, von dem wir nichts wussten, und seine eigene Splittergruppe gegründet hat.«
Randy: »Ich dachte, die Eutropianer wären die totalen Hard-Core-Individualisten, die reinen Befürworter individueller Gedanken- und Handlungsfreiheit.«
»Ja, schon!« sagt Cantrell. »Aber die Grundprämisse des Eutropianismus besagt, dass die Technologie uns post-human gemacht hat. Dass Homo sapiens plus Technologie effektiv eine ganz neue Spezies bilden: unsterblich, dank Internet allgegenwärtig und auf dem besten Weg zur Allmacht. Die Ersten, die solche Gedanken formulierten, waren Liberalisten.«
Tom sagt: »Aber die Idee fanden alle möglichen Leute anziehend – einschließlich Andy Loeb. Er tauchte eines Tages auf und fing an, vom Schwarmbewusstsein zu quasseln.«
»Und natürlich wurde er von den meisten Eutropianern geteert und gefedert, denn dieses Konzept war ihnen verhasst«, sagt Cantrell.
Tom: »Aber er hielt daran fest und nach einer Weile schlossen sich ein paar Leute seiner Meinung an. Letztlich gab es unter den Eutropianern sogar eine recht starke Fraktion, die sich nicht besonders um Gedanken- und Handlungsfreiheit scherte und die Idee eines Schwarmbewusstseins attraktiv fand.«
»Und Andy ist jetzt der Anführer dieser Fraktion?«, fragt Randy.
»Nehme ich mal an«, erwidert Cantrell. »Sie haben sich abgespalten und ihre eigene Newsgroup gebildet. In den letzten sechs Monaten haben wir nicht viel von ihnen gehört.«
»Und wie seid ihr auf die Verbindung zwischen Andy und mir gekommen?«
»Er platzt immer mal wieder in die Heimliche-Bewunderer-Newsgroup rein«, antwortet Tom. »Und dort hat es in letzter Zeit viele Diskussionen über die Krypta gegeben.«
Cantrell sagt: »Nachdem er rausgekriegt hatte, dass du und Avi damit zu tun haben, hat er diesen ungeheuren Schwulst verschickt – zwanzig oder dreißig Kilobyte Bandwurmsätze. Nicht sehr schmeichelhaft.«
»Mannomann.Was will der Kerl denn noch? Er hat den Fall gewonnen. Mich völlig ruiniert. Was muss er da noch seine Zeit mit mir verschwenden?«, sagt Randy und pocht sich an die Brust. »Hat er keinen normalen Job?«
»Er ist jetzt Anwalt oder so was«, erklärt Cantrell.
»Ha! Passt genau.«
»Er hat uns denunziert«, sagt Tom. »Als Handlanger des Kapitalismus. Die die Gesellschaft atomisieren. Und die Welt sicher machen für Dealer und Kleptokraten aus der Dritten Welt.«
»Na, wenigstens hat er einmal was kapiert«, sagt Randy. Er ist hocherfreut, endlich eine Antwort auf die Frage zu haben, warum sie die Krypta bauen.
Rückzugsmanöver
Sio ist ein Schlammfriedhof. Diejenigen, die ihr Leben schon für den Kaiser hingegeben haben, konkurrieren mit denen, die fest dazu entschlossen sind, um einen Platz im Morast. Bizarre gabelschwänzige amerikanische Flugzeuge stürzen sich jeden Tag aus der Sonne herab, um sie mit schrecklichen, glühenden Schauern von Kanonenfeuer und den Verstand zermalmenden Bombeneinschlägen zu ermorden, deshalb schlafen sie in offenen Gräbern und kommen nur nachts heraus. Aber in ihren Gruben steht stinkendes Wasser, das von feindlichem Leben wimmelt, und wenn die Sonne untergeht, trommelt Regen auf sie ein, sodass ihnen die Kälte großer Höhen bis in die Knochen dringt. Jeder Einzelne in der 20. Division weiß, dass er Neuguinea nicht lebendig verlassen wird, und so bleibt ihnen nur noch die Wahl der Todesart: sich ergeben, um von den Australiern gefoltert und dann massakriert zu werden? Sich eine Granate an den Kopf halten? Bleiben, wo sie sind, um tagsüber von den Flugzeugen und nachts von Malaria, Durchfall, Japanischem Flussfieber, Hunger und Hypothermie umgebracht zu werden? Oder mehr als dreihundert Kilometer über Berge und Hochwasser führende Flüsse nach Mandang marschieren, was schon zu Friedenszeiten und mit Nahrungs- und Arzneimitteln im Gepäck reiner Selbstmord ist...?
Doch genau das befiehlt man ihnen. General Adachi fliegt nach Sio – es ist seit Wochen das erste nicht feindliche Flugzeug, das sie zu Gesicht bekommen -, landet auf dem zerfurchten, fauligen Acker, den sie als Piste bezeichnen, und befiehlt die Evakuierung. Sie sollen sich in vier Abteilungen landeinwärts bewegen. Regiment um Regiment begraben sie ihre Toten, packen zusammen, was von ihrer Ausrüstung noch übrig ist, horten das bisschen Essen, das sie noch haben, warten auf die
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