Cryptonomicon
Shaftoe.
Nun sagt Root eine ganze Weile nichts mehr. Er arbeitet bloß mit Nadel und Faden. Es scheint, als vergingen mehrere Minuten. Vielleicht ist es auch nicht so lang. Wegen der Deutschen ist jeder nervös.
»Lieutenant Monkberg verlangt von mir zu glauben, dass es den Tod alliierter Soldaten verhindert, wenn wir die Codebücher der alliierten Handelsschifffahrt heute den Deutschen überlassen«, sagt Root schließlich. Alles fährt beim Klang seiner Stimme nervös zusammen. »Aber da wir bei derlei Situationen eine Art Todeskalkül anstellen müssen, lautet die eigentliche Frage: Rettet das irgendwie mehr Leben, als es kostet?«
»Da komme ich nicht mehr mit, Padre«, sagt Shaftoe. »Ich bin schon in Algebra durchgefallen.«
»Dann fangen wir doch mit dem an, was wir wissen: Die Codes den Deutschen zu überlassen wird Leben kosten, weil die Deutschen auf diese Weise herausbekommen, wo unsere Geleitzüge sind, und sie versenken können. Stimmt’s?«
»Stimmt!«, sagt Corporal Benjamin. Root scheint zu seiner Ansicht zu tendieren.
»Das gilt aber nur bis zu dem Zeitpunkt«, fährt Root fort, »an dem die Alliierten die Codesysteme ändern – was sie wahrscheinlich so bald wie möglich tun werden. Auf der negativen Seite des Todeskalküls haben wir also kurzfristig ein paar versenkte Geleitzüge.Wie aber sieht es mit der positiven Seite aus?«, fragt Root und hebt nachdenklich die Brauen, während er zugleich auf Monkbergs Wunde hinabstarrt. »Inwiefern könnte die Überlassung der Codes Leben retten? Tja, das ist eine Imponderabilie.«
»Eine was?«, fragt Shaftoe.
»Angenommen, es gäbe einen geheimen Geleitzug, der demnächst von NewYork abgeht, und er befördert Tausende von Soldaten und irgendeine neue Waffe, die dem Krieg eine Wende geben und Tausende von Leben retten wird. Und angenommen, er benutzt ein anderes Codesystem, sodass die Deutschen auch dann nicht davon erfahren, wenn sie heute unsere Codebücher in die Hand bekommen. Die Deutschen werden ihre Energien darauf konzentrieren, die Geleitzüge zu versenken, von denen sie wissen – und dabei vielleicht ein paar hundert Seeleute töten. Aber während sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Geleitzüge richten, wird der geheime Geleitzug durchschlüpfen, seine kostbare Ladung abliefern und Tausende von Leben retten.«
Erneut längeres Schweigen. Nun können sie den Rest von Abteilung 2702 unten in den Rettungsbooten herumbrüllen hören, wo vermutlich ebenfalls eine eingehende Diskussion im Gange ist: Wenn wir sämtliche Scheißoffiziere auf einem aufgelaufenen Schiff zurücklassen, zählt das dann als Meuterei?
»Das ist eine reine Hypothese«, sagt Root. »Aber sie beweist, dass das Todeskalkül zumindest theoretisch auch eine positive Seite haben könnte. Und wenn ich so darüber nachdenke, gibt es womöglich gar keine negative Seite.«
»Was soll das heißen?«, sagt Benjamin. »Natürlich gibt es eine negative Seite!«
»Sie gehen davon aus, dass die Deutschen diesen Code noch nicht geknackt haben«, sagt Root und deutet mit blutigem Finger anklagend auf Benjamins großen Band Kauderwelsch. »Aber vielleicht haben sie das ja. Sie haben unsere Geleitzüge nämlich wie nicht gescheit versenkt. Wenn das der Fall ist, dann hat es nichts Negatives, den Code in ihre Hände fallen zu lassen.«
»Aber das widerspricht Ihrer Theorie von dem geheimen Geleitzug!«, sagt Benjamin.
»Der geheime Geleitzug war bloß ein Gedankenexperiment«, sagt Root.
Corporal Benjamin verdreht die Augen; offenbar weiß er tatsächlich, was das heißt. »Wenn sie ihn schon geknackt haben, warum machen wir uns dann so viele Umstände und riskieren unser Leben, damit SIE IHN IN DIE FINGER KRIEGEN?«
Root grübelt eine Weile darüber nach. »Das weiß ich nicht.«
»Tja, was meinen Sie denn nun, Lieutenant Root?«, fragt Bobby Shaftoe ein paar entsetzlich stille Minuten später.
»Ich meine, dass Corporal Benjamins Erklärung – d. h. dass Lieutenant Monkberg ein deutscher Spion ist – ungeachtet meines Gedankenexperiments mehr Plausibilität hat.«
Benjamin stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Vor Entsetzen gelähmt, starrt Monkberg Root ins Gesicht.
»Aber es passieren ständig unplausible Dinge«, fährt Root fort.
»Herr des Himmels!«, ruft Benjamin und knallt die Hand auf das Buch.
»Lieutenant Root?«, sagt Shaftoe.
»Ja, Sergeant Shaftoe?«
»Lieutenant Monkbergs Verletzung war ein Unfall. Ich war dabei.«
Root schaut Shaftoe in die Augen.
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