Cryptonomicon
draußen auf der Straße herauszufordern.
Er warf einen raschen Blick auf seinen Pager, überzeugt, dort die Nummer des Three Siblings Computer Center vorzufinden, für das er arbeitete (und eigentlich immer noch arbeitet). Die Achtung gebietenden Ziffern von Avis Telefonnummer durchdrangen sein Innerstes wie die 666 das eines Fundamentalisten.
Fünfzehn Sekunden später war Randy draußen auf dem Bürgersteig und zog seine Telefonkarte durch den Schlitz eines öffentlichen Fernsprechers wie ein Mörder eine einschneidige Rasierklinge durch die Kehle eines beleibten Politikers.
»Die Macht wird von oben herab gegeben«, fuhr Avi fort. »Und heute Abend zufällig von mir – du armes Schwein.«
»Was soll ich tun?« fragte Randy in einem kalten, fast feindseligen Ton, um seine makabre Erregung zu verbergen.
»Besorg dir ein Ticket nach Manila«, sagte Avi.
»Das muss ich erst mit Charlene besprechen«, erwiderte Randy.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Avi.
»Charlene und ich sind schon lange zus-«
»Seit zehn Jahren. Du hast sie nicht geheiratet. Füll endlich die Formulare aus.«
(Und zweiundsiebzig Stunden später würde er in Manila vor der Einton-Flöte stehen.)
»In Asien fragt sich jeder, wann die Philippinen endlich ihren Kram auf die Reihe kriegen«, sagte Avi, »das ist die Frage der Neunziger.«
(Die Einton-Flöte ist das Erste, was man sieht, wenn man die Passkontrolle hinter sich hat.)
»Das ist mir ganz plötzlich gekommen, als ich in der Schlange vor der Passkontrolle am Ninoy Aquino International Airport stand«, sagte Avi, wobei er den ganzen Namen in einer einzigen, scharf artikulierten Salve abfeuerte. »Du weißt, dass es da verschiedene Spuren gibt?«
»Vermutlich«, antwortete Randy. Ein Parallelepipedon aus verbranntem Thunfisch schlug in seiner Kehle Purzelbaum. Er verspürte eine perverse Lust auf eine Rieseneistüte. Er reiste nicht so viel wie Avi und hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was dieser mit Spuren meinte.
»Du weißt schon. Eine Spur für Einheimische. Eine für Ausländer. Vielleicht eine für Diplomaten.«
(Jetzt, wo er ansteht, um sich seinen Pass abstempeln zu lassen, kann Randy es deutlich sehen. Ausnahmsweise macht ihm das Warten einmal nichts aus. Er stellt sich neben der Spur für die OCWs an und betrachtet sie eingehend. Sie sind der Markt für Epiphyte Corp. Zumeist junge Frauen, viele von ihnen modisch gekleidet, aber dennoch mit der Sittsamkeit katholischer Internatsschülerinnen. Erschöpft von langen Flügen und müde vom Warten sinken sie in sich zusammen, um sich plötzlich wieder zu strecken und ihre feinen Kinne hochzurecken, als ginge eine unsichtbare Nonne an der Schlange entlang und schlüge ihnen mit einem Lineal auf die manikürten Finger.)
Vor zweiundsiebzig Stunden hatte er aber im Grunde nicht verstanden, was Avi mit Spuren meinte, und deshalb nur geantwortet: »Ja, das mit den Spuren habe ich mal gesehen.«
»In Manila haben sie eine Extra-Spur für zurückkehrende OCWs!«
»OCWs?«
»Overseas Contract Workers. Filipinos, die im Ausland arbeiten – weil die philippinische Wirtschaft so lahm ist. Als Haus- und Kindermädchen in Saudi-Arabien. Als Krankenschwestern und Anästhesisten in den Staaten. Sängerinnen in Hongkong, Huren in Bangkok.«
»Huren in Bangkok?« Wenigstens dort war Randy gewesen und ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, Prostituierte nach Thailand zu importieren.
»Die Filipino-Frauen sind hübscher«, fuhr Avi ganz ruhig fort, »und besitzen eine Wildheit, die sie für den von Natur aus masochistischen Geschäftsreisenden interessanter machen als all diese grinsenden Thai-Bräute.« Beide wussten sie, dass das völliger Blödsinn war; Avi war ein Familienmensch und kannte das, wovon er sprach, nicht aus eigener Erfahrung. Dennoch verkniff Randy sich eine Bemerkung. Solange Avi die Fähigkeit behielt, aus dem Stegreif Blödsinn zu produzieren, standen die Chancen für sie alle nicht schlecht, ein Schweinegeld zu verdienen.
(Jetzt wo er hier ist, gerät er schwer in Versuchung, darüber zu spekulieren, welche der Mädchen in der OCW-Spur Nutten sind. Ihm wird jedoch schnell klar, dass das zu nichts führen würde, und so strafft er die Schultern und marschiert auf die gelbe Linie zu.
In dem Gang zwischen der Passkontrolle und der Sicherheitsabsperrung hat die Regierung Glasvitrinen aufgestellt. Sie enthalten Gebrauchsgegenstände, die die Herrlichkeit der vor-magellanschen philippinischen
Weitere Kostenlose Bücher