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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dachte immer noch über angeborene Wildheit nach und konnte sie in ihrem Gesicht nicht finden; nur eine Oberlehrerhaftigkeit, die all ihren Freunden gemeinsam war. Mannomann! Ich muss aus Kalifornien raus, erkannte er.

Seegras
    Frau mit Kind im Arm
Augen wie Mündungsfeuer
Klang von Eistränen
    Zu den Klängen von John Philip Sousa, die einem Marine eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen sein müssten, marschieren die Fourth Marines hügelabwärts. Aber die Fourth Marines sind zu lange in Schanghai gewesen (und dabei handelt es sich weder um Montezumas Hallen noch um die Gestade von Tripolis), länger, als Marines je an einem Ort bleiben sollten, und Bobby hat seinen Sergeant, einen gewissen Frick, bereits vom Opiumentzug kotzen sehen.
    Mehrere Straßen vor ihnen marschiert eine Musikkapelle der Marines. Bobbys Zug kann das Rumsen der Pauken und das durchdringende Gellen von Piccoloflöten und Glockenspielen hören, aber er kann der Melodie nicht folgen. Corporal Shaftoe ist effektiv Zugführer, weil Sergeant Frick nicht zu gebrauchen ist.
    Shaftoe marschiert neben der Formation her, angeblich um ein Auge auf seine Männer zu haben; in Wirklichkeit aber glotzt er im Wesentlichen Schanghai an.
    Schanghai glotzt zurück und verabschiedet sie im Wesentlichen mit stehenden Ovationen. Natürlich gibt es einen bestimmten Typ von jungem Straßen-Rowdy, für den es Ehrensache ist, die Marines wissen zu lassen, dass er keine Angst vor ihnen hat, und diese Rowdys verhöhnen die Marines aus sicherer Entfernung und entzünden Knallfrösche an Schnüren, was nicht gerade zur allgemeinen Nervenberuhigung beiträgt. Die Europäer applaudieren – eine ganze Revue russischer Tänzerinnen aus dem Delmonte zeigt Bein und verteilt Kusshände. Doch die meisten Chinesen machen ziemlich steinerne Gesichter, was – wie Bobby vermutet – bedeutet, dass sie einen Heidenschiss haben.
    Das Schlimmste sind die Frauen mit den halb weißen Babys im Arm. Einige dieser Frauen sind hysterisch, wie von Sinnen, und werfen sich zwischen dichte Formationen von Marines, ohne sich von Gewehrkolben abschrecken zu lassen. Die meisten aber zeigen sich stoisch: Mit ihren helläugigen Babys stehen sie zornigen Blickes da und suchen die Reihen und Glieder nach dem Schuldigen ab. Sie haben alle gehört, was flussaufwärts in Nanking passiert ist, als die Nips dorthin kamen, und sie wissen, wenn alles vorüber ist, wird die einzige Spur, die von ihnen und ihren Kindern bleibt, vielleicht nur eine wirklich schlimme Erinnerung im Gedächtnis irgendeines amerikanischen Marine sein.
    Bei Shaftoe funktioniert es: Er hat in Wisconsin Rotwild gejagt und die Tiere über den Schnee humpeln und verbluten sehen. Auf Parris Island hat er einen Mann in der Grundausbildung sterben sehen. Er hat im Jangtse regelrechte Leichenknäuel gesehen, stromabwärts von dem Gebiet, wo die Japaner den Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke ahndeten, und er hat Flüchtlinge aus Städten wie Nanking in den Gossen von Schanghai verhungern sehen. Er selbst hat Menschen getötet, die versuchten, die Flussboote zu stürmen, die zu beschützen seine Pflicht war. Doch etwas so Schreckliches wie diese Chinesinnen mit den steinernen Gesichtern und den weißen Babys im Arm, die auch angesichts der um sie herum explodierenden Knallfrösche mit keiner Wimper zucken, hat er, wie er meint, noch nie gesehen und wird er auch nie mehr sehen.
    Bis er in die Gesichter bestimmter Marines schaut, die in jene Menge starren und ihre Blicke von ihren eigenen Gesichtern erwidert sehen, pummelig von Babyspeck und tränenverschmiert. Manche halten das Ganze offenbar für einen Jux. Aber viele Marines, die an diesem Vormittag als geistig gesunde, unverwüstliche Männer aus ihrer leeren Kaserne abrücken, sind, bis sie die Kanonenboote erreichen, die am Bund auf sie warten, wahnsinnig geworden. Sie zeigen es nicht. Aber an ihren Augen kann Shaftoe erkennen, dass irgendetwas in ihrem Innern zerbrochen ist.
    Selbst die allerbesten Männer des Regiments sind mieser Laune. Auch wer sich, wie Shaftoe, nicht mit den Chinesinnen eingelassen hat, muss vieles aufgeben: Häuser mit Dienstmädchen, Schuhputzern und Kulis, mit Frauen und Opium, und das alles praktisch umsonst. Sie wissen nicht, wohin man sie verfrachtet, aber es steht so gut wie fest, dass ihre einundzwanzig Dollar im Monat nicht so weit reichen werden. Sie werden in einer Kaserne wohnen und wieder lernen müssen, ihre Stiefel selbst zu putzen. Als man

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