Cryptonomicon
die Laufplanken vom steinernen Rand des Bund zurückzieht, werden die Marines von einer ganzen Welt abgeschnitten, die sie nie wieder sehen werden, einer Welt, in der sie Könige waren. Jetzt sind sie wieder Marines. Für Shaftoe, der ein Marine sein will, ist das in Ordnung. Aber viele von den Männern sind hier in die Jahre gekommen und wollen es nicht mehr sein.
Die Schuldigen verschwinden unter Deck. Shaftoe bleibt an Deck des Kanonenbootes, das vom Bund ablegt und Kurs auf den Kreuzer Augusta nimmt, der mitten in der Fahrrinne wartet.
Auf dem Bund drängen sich Zuschauer in einem Gewühl unterschiedlich bunter Kleidung, sodass ihm ein Fleck tristes Uniformtuch ins Auge fällt: eine Gruppe japanischer Soldaten, die gekommen sind, um ihren amerikanischen Pendants sarkastisch Lebewohl zu sagen. Shaftoe sucht die Gruppe nach jemand Großem, Massigem ab und macht ihn mühelos ausfindig. Goto Dengo winkt ihm zu.
Shaftoe nimmt seinen Helm ab und winkt zurück. Dann, aus einer Laune heraus, holt er nur so zum Spaß Schwung und schleudert den Helm direkt nach Goto Dengos Kopf. Der Wurf misslingt und Goto Dengo muss ungefähr ein Dutzend seiner Kameraden über den Haufen rennen, um den Helm aufzufangen. Sie scheinen es allesamt nicht nur für eine hohe Ehre, sondern auch für ungeheuer lustig zu halten, von Goto Dengo über den Haufen gerannt zu werden.
Zwanzig Sekunden später saust aus dem Kosmos von Leibern auf dem Bund ein Komet in die Luft und prallt auf das Holzdeck des Kanonenboots – ein Mordswurf. Goto Dengo gibt mit seinem Durchschwung an. Das Wurfgeschoss ist ein Stein mit einem drumherum geschlungenen flatternden Band. Shaftoe läuft zu der Stelle hinüber und schnappt es sich. Das Band ist eines jener mit tausend Stichen genähten Stirnbänder (angeblich sind es so viele; er hat ein paar bewusstlosen Nips das Stirnband abgenommen, sich aber nie die Mühe gemacht, die Stiche zu zählen), die sie sich als Glücksbringer um den Kopf schlingen; es hat einen Fleischklops in der Mitte und ein paar japanische Schriftzeichen auf beiden Seiten. Er löst es von dem Stein. Dabei merkt er plötzlich, dass es überhaupt kein Stein ist, sondern eine Handgranate! Doch der gute alte Goto Dengo hat nur einen Scherz gemacht – er hat den Stift nicht gezogen. Ein hübsches Souvenir für Bobby Shaftoe.
Shaftoes erster Haiku (Dezember 1940) war eine rasche, schmutzige Adaptation des Glaubensbekenntnisses der Marines:
Das ist mein Gewehr
Es gibt viele davon doch
Dieses gehört mir
Er schrieb ihn unter folgenden Umständen: Shaftoe und der Rest der Fourth Marines waren in Schanghai stationiert, damit sie die Internationale Konzession bewachen und als Kerle fürs Grobe auf den Kanonenbooten der Yangtze River Patrol arbeiten konnten. Sein Zug war gerade von der Letzten Patrouille zurückgekommen: einem gewaltsamen Aufklärungsunternehmen über tausend Meilen, vorbei an dem, was von Nangking übrig war, bis hinauf nach Hankow und wieder zurück. Marines hatten das seit dem Boxeraufstand getan, durch Bürgerkriege und alles andere hindurch. Doch gegen Ende 1940, da die Nips 2 praktisch den ganzen Nordosten Chinas regierten, hatten die Politiker in D.C. schließlich das Handtuch geworfen und die China-Marines angewiesen, nicht mehr den Jangtse hinaufzudampfen.
Nun behaupteten die Marines der alten Schule wie zum Beispiel Frick, sie könnten einen Unterschied erkennen zwischen organisierten Briganten, bewaffneten Haufen hungernder Bauern, marodierenden Nationalisten, kommunistischen Partisanen und den irregulären Streitkräften im Sold diverser Kriegsherren. Für Shaftoe waren sie alle bloß verrückte, bewaffnete Schlitzaugen, die der Yangtze River Patrol ans Leder wollten. Die Letzte Patrouille war ein hirnverbranntes Unternehmen gewesen. Doch sie war vorbei und nun waren sie wieder in Schanghai, dem sichersten Ort, an dem man in China sein konnte, und ungefähr hundertmal gefährlicher als der gefährlichste Ort Amerikas. Sie waren vor sechs Stunden vom Kanonenboot gestiegen und in eine Bar gegangen, die sie eben erst verlassen hatten, weil sie zu dem Schluss gekommen waren, es sei höchste Zeit, in ein Bordell zu gehen. Auf dem Weg dorthin kamen sie zufällig an diesem japanischen Restaurant vorbei.
Bobby Shaftoe hatte schon einmal zum Fenster des Lokals hineingeschaut und dem Mann mit dem Messer zugesehen, weil er dahinter kommen wollte, was zum Teufel er eigentlich machte. Es sah ganz danach aus, als würde er
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