Cryptonomicon
herausragen. Alle drei Köpfe drehen sich nach ihnen um. Beim Anblick des Dentisten nehmen Eb und John den Gesichtsausdruck zweitklassiger Schauspieler an, deren Figuren soeben von Kleinkalibergeschossen mitten in die Stirn getroffen wurden. Avi dagegen wird steif wie ein Mann, der vor einer Woche auf einen rostigen Nagel getreten ist und gerade die ersten Krämpfe der Tetanusinfektion verspürt hat, die ihm am Ende die Wirbelsäule brechen wird.
»Wir haben einen arbeitsreichen Tag vor uns«, antwortet Randy. »Ich würde sagen ja, falls die Zeit es uns erlaubt.«
»Gut. Ich nehme Sie beim Wort«, sagt Dr. Kepler und tritt aus dem Fahrstuhl. »Guten Morgen, Mr. Halaby. Guten Morgen, Dr. Föhr. Guten Morgen, Mr. Cantrell. Wie erfreulich, dass Sie alle wie echte Gentlemen aussehen.«
Wie erfreulich, dass Sie sich wie einer verhalten.
»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite«, entgegnet Avi. »Wir werden Sie doch später noch sehen?«
»Ja natürlich«, sagt der Dentist, »Sie werden mich den ganzen Tag sehen.« Die Behandlung wird sich in die Länge ziehen, fürchte ich. Er wendet ihnen den Rücken zu und geht ohne weitere Höflichkeiten quer durch die Hotelhalle auf eine Gruppe von Ledersesseln zu, die fast hinter einem Wust seltsamer tropischer Blumen verschwindet. Die Leute in diesen Sesseln sind zum größten Teil jung und alle schick angezogen. Sie nehmen Haltung an, als ihr Boss sich auf sie zu bewegt. Randy zählt drei Frauen und zwei Männer. Einer der Männer ist offensichtlich ein Gorilla, aber von den Frauen – unwillkürlich kommen einem die Begriffe Moiren, Furien, Grazien, Nornen oder Harpyien in den Sinn – heißt es, sie seien ausgebildete Bodyguards und trügen außerdem Waffen.
»Wer sind die denn?«, fragt John Cantrell. »Seine Arzthelferinnen?«
»Lach nicht«, erwidert Avi. »Als er noch praktizierte, hatte er immer ein Team von Frauen, die das Untersuchen und Reinigen für ihn übernahmen. Das hat seine Vorstellung geprägt.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?« fragt Randy.
»Du weißt doch, wie das geht«, sagt Avi. »Wenn du zum Zahnarzt gehst, bekommst du den Mann selbst ja nie zu Gesicht, stimmt’s? Jemand anders gibt dir den Termin. Dann ist da immer dieser erlesene Kreis von überaus tüchtigen Frauen, die den Zahnstein wegkratzen, damit der Zahnarzt sich darum nicht kümmern muss, und Röntgenaufnahmen von dir machen. Der Zahnarzt selbst sitzt irgendwo im Hintergrund und schaut sich die Röntgenaufnahmen an – für ihn bist du dieses abstrakte Grautonbild auf einem kleinen Stück Film. Wenn er Löcher sieht, wird er aktiv. Wenn nicht, kommt er rein, wechselt zwei, drei Worte mit dir, und dann gehst du nach Hause.«
»Warum ist er dann da?«, will Eberhard Föhr wissen.
»Das ist es ja!«, antwortet Avi. »Wenn er den Raum betritt, weißt du nie, warum er da ist – um dir ein Loch in den Schädel zu bohren oder nur um dir von seinem Urlaub auf Maui zu erzählen.«
Alle Augen richten sich auf Randy. »Was ist denn in diesem Fahrstuhl passiert?«
»Ich – nichts!«, stößt Randy hervor.
»Habt ihr überhaupt über das Philippinenprojekt gesprochen?«
»Er hat nur gesagt, dass er mit mir darüber sprechen will.«
»Mist, verfluchter«, sagt Avi. »Das heißt, wir müssen zuerst darüber sprechen.«
»Das weiß ich«, sagt Randy, »deshalb habe ich ihm gesagt, ich könnte vielleicht mit ihm reden, wenn ich einen Moment Zeit hätte.«
»Na, dann sorgen wir am besten dafür, dass du heute keine einzige freie Minute hast«, sagt Avi. Er denkt einen Moment nach und fährt fort: »Hatte er irgendwann eine Hand in der Hosentasche?«
»Wieso? Rechnest du etwa damit, dass er eine Waffe zieht?«
»Nein«, sagt Avi, »aber irgendjemand hat mir mal erzählt, der Dentist trägt eine Wanze.«
»Du meinst, wie ein Polizeispitzel?«, fragt John ungläubig.
»Ja«, sagt Avi, als wäre das nichts Besonderes. »Er hat die Angewohnheit, einen winzigen Digitalrekorder von der Größe eines Streichholzbriefchens in der Tasche mit sich herumzutragen. Vielleicht mit einem Kabel, das unter seinem Hemd zu einem winzigen Mikrophon führt. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls weiß man nie, wann er einen aufnimmt.«
»Ist das nicht illegal oder so was?«, fragt Randy.
»Ich bin kein Jurist«, sagt Avi. »Oder genauer gesagt, kein kinakutanischer Jurist. Aber in einem Zivilprozess würde das sowieso nichts ausmachen – sollte er uns eine Klage anhängen, könnte er jeden beliebigen
Weitere Kostenlose Bücher