Cryptonomicon
nüchterner Wissenschaftler mit einem Angestelltenjob ohne Aufstiegschancen, der seine gesamte Freizeit mit dem ganz und gar schwachsinnigen Hobby der Fantasy-Rollenspiele verbrachte, in eine Beziehung zu einer schlanken, nicht unattraktiven jungen Studentin der Geisteswissenschaften, die ihre Freizeit darauf verwandte, auf dem Meer Kajak zu fahren und sich im Kino ausländische Filme anzuschauen? Es musste wohl ein typischer Fall von Anziehung der Gegensätze gewesen sein, eine Beziehung zwischen sich ergänzenden Partnern. Kennen lernten sie sich – natürlich – im Büro der Fernleihe, wo der hochintelligente, aber ruhige und sanftmütige Randy der hochintelligenten, aber zerstreuten und flatterhaften Charlene half, einen chaotischen Haufen Bestellzettel zu ordnen. Er hätte sich auf der Stelle mit ihr verabreden sollen, aber er war schüchtern. Eine zweite und dritte Gelegenheit ergab sich, als die von ihr bestellten Bücher nach und nach aus dem Postraum eintrudelten, und schließlich verabredete er sich mit ihr und sie gingen zusammen ins Kino. Wie sich herausstellte, waren beide nicht nur bereit, sondern regelrecht darauf aus und möglicherweise sogar wild entschlossen. Bevor es ihnen so recht bewusst wurde, hatte Randy Charlene seinen Wohnungsschlüssel und Charlene Randy ihr Passwort für freien Computerzugang an der Universität gegeben und alles war einfach nur herrlich.
Das Computersystem der Universität war besser als gar kein Computer. Wie jedes andere Hochleistungscomputernetz im akademischen Bereich basierte auch dieses auf einem industrietauglichen Betriebssystem namens UNIX, dessen Lernkurve Ähnlichkeit mit dem Matterhorn hatte und das nicht die knuddeligen und modischen Eigenschaften der Personalcomputer besaß, die damals in Mode kamen. Als Student hatte Randy hin und wieder daran gearbeitet und kannte sich damit aus. Dennoch brauchte es seine Zeit, auf dem Ding gute Programme zu schreiben. Schon als Charlene auf der Bildfläche erschienen war, hatte sein Leben sich verändert, und jetzt veränderte es sich noch mehr: Er stieg ganz aus dem Fantasy-Rollenspiel-Zirkel aus, ging nicht mehr zu den Treffen der Gesellschaft für kreativen Anachronismus und fing an, seine gesamte freie Zeit entweder mit Charlene oder vor einem Computerterminal zu verbringen. Alles in allem war es wahrscheinlich eine Veränderung zum Positiven. Mit Charlene machte er Sachen, die er sonst nicht gemacht hätte, wie etwa Sport treiben oder Live-Konzerte besuchen. Und am Computer eignete er sich neue Fähigkeiten an und ließ etwas entstehen.Vielleicht war es ja etwas völlig Nutzloses, aber immerhin ließ er es entstehen.
Er unterhielt sich auch viel mit Andrew Loeb, der wirklich rausging und das Zeug machte, für das er Programme schrieb; er verschwand für ein paar Tage und kam mit Fischschuppen im Bart oder getrocknetem Tierblut unter den Fingernägeln ganz zitterig und abgezehrt zurück. Dann verschlang er ein paar Big Macs, schlief vierundzwanzig Stunden lang und traf sich mit Randy in einer Bar (Charlene fühlte sich nicht wohl, wenn er bei ihnen im Haus war), um gelehrte Gespräche über die Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens im Stil der amerikanischen Ureinwohner zu führen. Sie diskutierten darüber, ob die Indianer die ekligeren Teile von bestimmten Tieren wohl essen oder fortwerfen würden. Andrew plädierte für Ersteres. Randy war anderer Meinung – dass sie Primitive waren, bedeutete nicht, dass sie keinen Geschmack hatten. Andrew warf ihm vor, ein Romantiker zu sein. Schließlich gingen sie, um die Frage zu klären, gemeinsam in die Berge, bewaffnet mit nichts als Messern und Andrews Sammlung von hervorragend gefertigten Raubwildfallen. Am dritten Abend ertappte sich Randy bei dem Gedanken, ein paar Insekten zu essen. »Quod erat demonstrandum«, kommentierte Andrew.
Jedenfalls vollendete Randy seine Software nach anderthalb Jahren. Sie war ein Erfolg; Chester und Avi fanden sie gut. Randy freute sich durchaus darüber, etwas so Kompliziertes, was auch noch funktionierte, gebaut zu haben, gab sich aber keinen Illusionen darüber hin, dass es zu irgendetwas gut sein könnte. Irgendwie störte es ihn, dass er so viel Zeit und geistige Energie in das Projekt gesteckt hatte. Andererseits wusste er, dass er, wenn er nicht programmiert hätte, dieselbe Zeit damit zugebracht hätte, sich an Rollenspielen zu beteiligen oder im mittelalterlichen Gewand zu den Treffen der Gesellschaft für kreativen
Weitere Kostenlose Bücher