Cryptonomicon
Bibliotheken aus der ganzen Region zu bearbeiten und umgekehrt Anfragen an andere Bibliotheken zu verschicken. Hätte der neunjährige Randy Waterhouse in die Zukunft blicken und sich in dieser Position sehen können, wäre er halb verrückt geworden vor Freude: Das wichtigste Instrument in der Fernleihe war nämlich der Enthefter. Klein-Randy hatte in der vierten Klasse eine solche Vorrichtung in der Hand seines Lehrers gesehen und war begeistert gewesen von ihrem klug durchdachten, tödlichen Aussehen, das an die Kiefer irgendeines futuristischen Drachenroboters erinnerte.Tatsächlich hatte er sich nach Kräften bemüht, Blätter falsch zusammenzuheften, damit er seinen Lehrer dazu bewegen konnte, sie zu entheften und ihm dabei wieder einen Blick auf die Grauen erregenden Beißwerkzeuge in Aktion zu gewähren. Er war sogar so weit gegangen, von einer unbesetzten Bank in der Kirche einen Enthefter zu klauen und in einen Kampfroboter-Bausatz einzubauen, mit dem er einen Großteil der Nachbarschaft terrorisierte; mit seinem Klapperschlangengähnen zerlegte er so manches billige Plastikspielzeug in seine Einzelteile, bevor der Diebstahl entdeckt und vor Gott und den Menschen ein Exempel an Randy statuiert wurde. Später in der Fernleihe hatte Randy nicht nur einen, sondern mehrere Enthefter in seiner Schreibtischschublade und war sogar gezwungen, sie täglich ein oder zwei Stunden lang zu benutzen.
Da die Bibliothek der University of Washington gut ausgestattet war, fragten ihre Chefs nur dann Bücher von anderen Bibliotheken an, wenn die Titel bei ihnen gestohlen oder besonders ausgefallen waren. Die FL (wie Randy und seine Kollegen sie liebevoll nannten) hatte ihre Stammkunden – Leute, die eine Menge ausgefallener Bücher auf ihrer Wunschliste hatten. Diese Leute waren in der Regel entweder langweilig, unheimlich oder beides. Bei Randy landeten irgendwie immer die aus der »Beides«-Kategorie, denn Randy war als einziger Sachbearbeiter im Büro kein Lebenslänglicher. Es schien klar, dass Randy mit seinem Abschluss in Astronomie und seinem profunden Wissen im Computerwesen eines Tages aufsteigen würde, während seine Kollegen keine höheren Ambitionen hegten. Sein breiterer Interessenshorizont und seine etwas weiter gefassteVorstellung von Normalität waren nützlich, wenn gewisse Vorgesetzte das Büro betraten.
Viele Leute fanden, dass Randy selbst ein langweiliger, unheimlicher, besessener Typ war. Er war nicht nur von der Naturwissenschaft, sondern auch von Fantasy-Rollenspielen besessen. Einen so stumpfsinnigen Job konnte er nur deshalb ein paar Jahre lang machen, weil seine Freizeit vollkommen damit ausgefüllt war, Fantasy-Szenarien von einer Tiefe und Komplexität zu inszenieren, die seine gesamten, in der Fernleihe so offensichtlich verkümmernden Hirnschaltkreise trainierten. Er gehörte zu einer Gruppe, die sich jeden Freitagabend traf und bis irgendwann am Sonntag spielte. Seine Mitstreiter waren ein Student namens Chester mit der Hauptfächerkombination Computerwissenschaft und Musik und einer namens Avi, der in einem höheren Semester Geschichte studierte.
Als eines Tages ein neuer Magisteranwärter namens Andrew Loeb mit einem gewissen Leuchten im Auge das Büro der Fernleihe betrat und aus seinem schmuddeligen alten Rucksack einen sechs Zentimeter dicken Stapel exakt getippter Bestellformulare herauszog, wurde er sofort einem bestimmten Typ zugeordnet und in Randy Waterhouses Richtung geschoben. Zwischen ihnen herrschte auf Anhieb völlige Übereinstimmung, was Randy jedoch erst richtig bewusst wurde, als die Titel, die Loeb bestellt hatte, nach und nach auf dem Bücherwagen aus dem Postraum eintrafen.
Andy Loebs Projekt bestand darin, den Energiehaushalt der einheimischen Indianerstämme zu berechnen. Um zu atmen und die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten, muss ein menschlicher Körper eine bestimmte Menge Energie aufwenden. Diese Menge nimmt zu, wenn es kalt wird oder der betreffende Körper Arbeit verrichtet. Die einzige Möglichkeit, ihm die nötige Energie zuzuführen, besteht darin, Nahrung aufzunehmen. Allerdings haben manche Nahrungsmittel einen höheren Energiegehalt als andere. So ist etwa Forelle außerordentlich nahrhaft, aber so arm an Fett und Kohlehydraten, dass man verhungern kann, auch wenn man dreimal täglich davon isst. Andere Nahrungsmittel sind zwar energiereich, aber so aufwendig zu beschaffen und zuzubereiten, dass ihre Aufnahme kalorienmäßig keinen Gewinn bedeutet.
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