Cryptonomicon
würde sie sich einen Fluchtweg durch das Sicherheitsglas schaben. »Steht da draußen im Schnee!«
»Das ist kein richtiger Niederschlag«, sagt Onkel Red, »nur verwehter Schnee. Er ist absolut knochentrocken, und wenn du rausgehst und dir die Truhe oder wie immer du sie nennst anschaust, wirst du feststellen, dass der Schnee darauf nicht ansatzweise schmilzt, weil sie seit dem Umzug deiner Mutter ins Pflegeheim in dem U-Stor-It-Lagerhaus gestanden und sich an die Umgebungstemperatur angepasst hat, und die dürfte, das können wir wohl alle bezeugen, weit unter null Grad Celsius liegen.«
Randy legt die Arme gekreuzt auf seinen Unterleib, lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen. Die Sehnen in seinem Nacken sind so steif wie gefrorene Knete und lassen sich nur unter Schmerzen dehnen.
»Diese Truhe hat vom Augenblick meiner Geburt an bis ich zum College ging in meinem Schlafzimmer gestanden«, sagt Tante Nina. »Nach einem einigermaßen vernünftigen Begriff von Gerechtigkeit gehört diese Truhe mir.«
»Damit komme ich zu dem Durchbruch, den Randy und Tom und Geoff und ich schließlich gegen zwei Uhr morgens erzielt haben, nämlich dass der angenommene ökonomische Wert jedes einzelnen Gegenstands, so kompliziert er an und für sich schon ist, man betrachte nur das Rucksackproblem, lediglich eine Dimension der Probleme ist, die uns alle in einen emotionalen Zustand höchster Gereiztheit versetzt haben. Die andere Dimension – und hiermit meine ich wirklich eine Dimension im Sinne der euklidischen Geometrie – ist der emotionale Wert jedes Gegenstands. Das heißt, theoretisch könnten wir uns eine Aufteilung des gesamten Mobiliars ausdenken, bei der du, Nina, den gleichen Anteil bekommen würdest wie die anderen. Allerdings könnte eine solche Aufteilung dich, Liebes, sehr, sehr unzufrieden stimmen, weil du diese Truhe nicht bekommen hättest, die, obwohl sie offensichtlich nicht so wertvoll ist wie etwa das große Klavier, für dich einen viel größeren emotionalen Wert besitzt.«
»Ich glaube, man kann nicht ausschließen, dass ich physische Gewalt anwenden würde, um meinen rechtmäßigen Besitzanspruch auf diese Truhe zu verteidigen«, sagt Tante Nina, die plötzlich wieder in eine Art eisiger Ruhe verfällt, mit ausdrucksloser Stimme.
»Das ist aber nicht nötig, Nina, weil wir diese ganze Aufstellung hier so organisiert haben, dass du deine Gefühle zum Ausdruck bringen kannst!«
»Gut. Was mache ich jetzt?«, fragt Tante Nina und stürzt aus dem Auto. Randy und Onkel Red raffen hastig ihre Handschuhe, Fäustlinge und Hüte zusammen und folgen ihr nach draußen. Sie hat sich über die Truhe gebeugt und schaut zu, wie der Eisstaub im turbulenten Luftstrom ihres Körpers über deren dunkle, aber klare, fast leuchtende Oberfläche wirbelt und dabei kleine, Mandelbrot-Fraktalen ähnliche Epi-epi-epi-Strudel erzeugt.
»So wie Geoff und Anne es vor uns getan haben und die anderen es nach uns tun werden, stellen wir jetzt jeden dieser Gegenstände auf eine bestimmte durch ein Koordinatensystem definierte Position in die Parklücken. Die x -Achse verläuft in diese Richtung«, sagt Onkel Red, der das Gesicht Waterhouse House zuwendet und die Arme im rechten Winkel ausbreitet, »und die y -Achse in diese.« Mit kleinen Schritten dreht er sich um neunzig Grad, sodass eine seiner Hände jetzt auf den Impala der Shaftoes zeigt. »Der jeweils angenommene finanzielle Wert wird in x gemessen. Je weiter es in dieser Richtung steht, umso wertvoller erscheint es dir. Du kannst einem Gegenstand sogar einen negativen x -Wert beimessen, wenn du findest, dass er einen negativen Wert hat – zum Beispiel dieser zu stark gepolsterte Stuhl da hinten, den neu zu polstern womöglich mehr kostet, als er tatsächlich wert ist. Genauso misst man auf der y -Achse den jeweils angenommenen emotionalen Wert. Nun haben wir ja bereits konstatiert, dass die Truhe für dich einen extrem hohen emotionalen Wert besitzt, und ich denke, wir können gleich loslegen und sie ganz ans Ende der Achse neben den Impala stellen.«
»Kann etwas einen negativen emotionalen Wert haben?«, fragt Tante Nina mürrisch und vermutlich rhetorisch.
»Wenn du es so sehr hasst, dass sein bloßer Besitz die emotionalen Vorteile zunichte machen würde, die du mit dem Besitz von so etwas wie der Truhe gewinnen würdest, dann ja«, sagt Onkel Red.
Randy hievt sich die Truhe auf die Schulter und beginnt, in die positive y -Richtung zu gehen. Die
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