Cryptonomicon
freiwillig begleitet. »Ich will das Gelände vom Gipfel des Kalvarienbergs aus sehen«, erklärt Goto Dengo. »Nur so werde ich den Einblick gewinnen, den ich brauche, um meine Aufgabe gut zu erfüllen.«
Auf dem Weg nach oben tauschen sie ihre Eindrücke von Neuguinea bzw. Neubritannien aus. Wie es scheint, ist das einzig Gute an der letztgenannten Insel die Siedlung Rabaul, ein ehemaliger britischer Hafen samt Kricketstadion und mittlerweile die einzige Stütze der japanischen Streitkräfte in Südwestasien. »Für einen Landvermesser war es lange Zeit der ideale Ort«, sagt Ninomiya und beschreibt die Befestigungen, die man dort zur Vorbereitung auf MacArthurs Invasion gebaut hat. Er besitzt die Detailbesessenheit eines Zeichners und spricht einmal eine geschlagene Stunde lang ohne Unterbrechung, als er ein bestimmtes System von Bunkern und Unterständen bis hin zur letzten Sprengfalle und Schützenkuhle beschreibt.
Je beschwerlicher der Anstieg wird, desto mehr wetteifern die beiden darin, die Strapaze klein zu reden. Goto Dengo erzählt die Geschichte von der Überquerung der schneebedeckten Bergkette auf Neuguinea.
»Mittlerweile besteigen wir in Neubritannien ständig Vulkane«, sagt Ninomiya beiläufig.
»Wieso?«
»Um Schwefel zu sammeln.«
»Schwefel? Wieso?«
»Um Schießpulver herzustellen.«
Danach bleiben sie eine ganze Weile stumm.
Goto Dengo versucht, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Das wird ein böses Erwachen für MacArthur, wenn er versucht, Rabaul einzunehmen!«
Ninomiya trottet eine Zeit lang stumm dahin und versucht, an sich zu halten, was ihm aber nicht gelingt. »Sie Schwachkopf«, sagt er, »kapieren Sie denn nicht? MacArthur wird nicht kommen. Das braucht er nicht.«
»Aber Rabaul ist der Eckstein des gesamten Kriegsschauplatzes!«
»Es ist ein Eckstein aus weichem Süßholz in einem Universum von Termiten. Er braucht uns nur noch ein Jahr zu ignorieren, dann werden alle verhungert oder am Typhus krepiert sein.«
Der Dschungel lichtet sich. Die Pflanzen suchen auf einem Hang aus lockerer Vulkanasche Halt und nur die kleineren haben Bestand. Das bringt Goto Dengo auf den Gedanken, ein Gedicht zu schreiben, in dem die kleinen, zähen Japaner sich gegen die großen, schwerfälligen Amerikaner durchsetzen, aber er hat schon lange kein Gedicht mehr geschrieben und vermag die Worte nicht harmonisch zusammenzufügen.
Eines Tages werden die Pflanzen diesen Kegel aus Schlacke und Geröll in Erde verwandeln, aber das wird noch dauern. Nun, da Goto Dengo endlich mehr als ein paar Meter weit sehen kann, begreift er allmählich, wie das Gelände beschaffen ist. Die numerischen Daten, die er und Ninomiya in der vergangenen Woche zusammengetragen haben, verbinden sich in seinem Kopf zu einem soliden Verständnis von Entstehung und Aufbau des Berges.
Der Kalvarienberg ist ein alter Aschekegel. Seinen Anfang genommen hat er als kleiner Riss, aus dem über Tausende von Jahren stückchenweise Asche und Schlacke geschleudert wurden, die in einer Schar parabelförmiger, der Bahn von Geschossen ähnlicher Kurven nach oben und außen flogen; je nach Größe des Fragments und Windrichtung unterschieden sich diese Kurven in Höhe und Durchmesser. Die Fragmente landeten in einem weiten Ring um den Riss. In dem Maße, wie der Ring an Höhe zunahm, verbreiterte er sich naturgemäß zu einem breiten, stumpfen Kegel, der sich oben zu einem zentralen Krater höhlte, auf dessen Grund der spuckende Riss lag.
Der Wind hier kommt in aller Regel fast genau aus südsüdöstlicher Richtung, sodass sich die Asche im Wesentlichen am nordnordwestlichen Rand des Kraters ablagerte. Das ist nach wie vor der höchste Punkt des Aschekegels. Aber der Riss ist vor Äonen erloschen oder hat sich durch seine eigenen Emissionen verstopft, und das ganze Gebilde ist seither stark erodiert. Der Südrand des Kegels besteht lediglich aus einer Kette niedriger Hügel, perforiert vom Lauf des Yamamoto und der beiden Nebenflüsse, die zum Tojo zusammenströmen. Der zentrale Krater ist ein tückisches Dschungelbecken, das so mit Chlorophyll gesättigt ist, dass es aus der Luft schwarz aussieht. Über dem Baldachin schweben Vögel, die von hier oben wie bunte Sterne anmuten.
Der Nordrand erhebt sich noch immer gut fünfhundert Meter über das Dschungelbecken, aber seine ehedem glatte Kante ist von der Erosion in drei deutlich erkennbare Gipfel zerschnitten worden, rote Schlackehaufen, die halb unter einem Gestoppel grüner
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