Cryptonomicon
über die Sache zu reden. Doch der Landvermesser, sein Freund und Vertrauter, hat sich rar gemacht, seit seine Arbeit abgeschlossen ist. Eines Tages schaut Goto Dengo bei Ninomiyas Zelt vorbei und findet es leer. Hauptmann Noda erklärt, der Landvermesser sei plötzlich abkommandiert worden, um anderswo wichtige Arbeiten zu verrichten.
Ungefähr einen Monat später, als die Straßenbauarbeiten in der Besonderen Sicherheitszone schon weit fortgeschritten sind, schreien einige der chinesischen Arbeiter, die mit Graben beschäftigt sind, plötzlich aufgeregt los. Goto Dengo versteht, was sie sagen.
Sie haben menschliche Überreste freigelegt. Der Dschungel hat sein Werk getan und es ist praktisch nichts außer Knochen übrig, aber der Geruch und die Heerscharen von Ameisen verraten Goto Dengo, dass die Leiche noch nicht sehr alt ist. Von einem der Arbeiter greift er sich eine Schaufel, schippt damit einen Erdklumpen auf und trägt ihn, während ein Ameisengewirr davon herabrieselt, zum Fluss hinüber. Er legt ihn vorsichtig ins fließende Wasser. Die Erde löst sich zu einer braunen Spur im Fluss auf und bald kommt der Schädel zum Vorschein: die Wölbung des Kopfes, die noch nicht ganz leeren Augenhöhlen, das Nasenbein, an dem noch ein paar Knorpelfragmente haften, und schließlich die von alten Abszessen zernarbten Kiefer, in denen fast alle Zähne bis auf einen Goldzahn in der Mitte fehlen. Die Strömung dreht den Schädel langsam um, als berge Lieutenant Ninomiya schamhaft sein Gesicht, und Goto Dengo sieht ein sauber in die Schädelbasis gestanztes Loch.
Er blickt auf. Ein Dutzend Chinesen haben sich am Flussufer um ihn geschart und betrachten ihn gleichmütig.
»Sprecht mit keinem anderen Japaner darüber«, sagt Goto Dengo. Als sie ihn im Dialekt der Schanghaier Prostituierten sprechen hören, sperren sie vor Erstaunen Mund und Nase auf.
Einer der Chinesen ist beinahe kahl. Er sieht aus wie Mitte vierzig, obwohl Gefangene rasch altern, sodass es immer schwer ist, Genaueres zu sagen. Im Gegensatz zu den anderen hat er keine Angst. Er blickt Goto Dengo abschätzend an.
»Du da«, sagt Goto Dengo, »such dir zwei Männer aus und dann folgt mir. Nehmt Schaufeln mit.«
Er führt sie in den Dschungel, an eine Stelle, wo man, wie er weiß, nicht mehr graben wird, und zeigt ihnen, wo sie Lieutenant Ninomiyas neues Grab schaufeln sollen. Der Kahlköpfige ist nicht nur ein guter Anführer, sondern auch ein kräftiger Arbeiter, der das Grab im Nu ausgehoben hat und dann ohne Ekel oder Klage die Überreste dorthin schafft. Wenn er den Zwischenfall in China mitgemacht und so lange als Kriegsgefangener überlebt hat, hat er vermutlich viel Schlimmeres gesehen und getan.
Goto Dengos Beitrag besteht darin, dass er Hauptmann Noda ein paar Stunden lang ablenkt. Sie steigen zum Yamamoto hinauf und inspizieren die Dammarbeiten. Noda geht es darum, den Yamamoto-See so rasch wie möglich anzulegen, ehe MacArthurs Luftwaffe das Gebiet genau kartographiert. Die plötzliche Entstehung eines Sees im Dschungel würde vermutlich nicht unbemerkt bleiben.
Der See liegt in einer von Dschungel bedeckten Senke aus natürlichem Fels, durch deren Mitte derYamamoto fließt. Gleich neben dem Flussufer arbeiten bereits Männer mit Felsbohrern, die Dynamitladungen platzieren. »Der schräge Schacht wird hier beginnen«, sagt Goto Dengo zu Hauptmann Noda, »und verläuft dann« – er kehrt dem Fluss den Rücken zu und stößt eine Hand wie eine Klinge Richtung Dschungel – »geradewegs hinunter nach Golgatha.« Die Schädelstätte.
»Gargatta?«, fragt Hauptmann Noda.
»Das ist Tagalog«, sagt Goto Dengo mit Bestimmtheit. »Es bedeutet ›verborgene Lichtung‹.«
»Verborgene Lichtung. Das gefällt mir! Sehr gut. Gargatta!«, sagt Hauptmann Noda. »Ihre Arbeit geht sehr gut vonstatten, Lieutenant Goto.«
»Ich bemühe mich lediglich, dem hohen Maßstab zu genügen, den Lieutenant Ninomiya gesetzt hat«, sagt Goto Dengo.
»Er war ein ausgezeichneter Arbeiter«, sagt Noda gelassen.
»Vielleicht kann ich ihm, wenn ich hier fertig bin, folgen – wo immer man ihn hingeschickt hat.«
Noda grinst. »Ihre Arbeit steht noch ganz am Anfang. Aber ich kann Ihnen definitiv sagen, dass Sie wieder mit Ihrem Freund zusammenkommen, wenn Sie fertig sind.«
SEATTLE
Lawrence Pritchard Waterhouses Frau und fünf Kinder sind übereinstimmend der Meinung, dass Dad im Krieg irgendetwas gemacht hat, aber da hört’s dann auch schon auf. Jeder von ihnen
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