Cryptonomicon
sie vom späteren Seegrund aus nach unten bohrten.
Wing selbst ist dieser Tage anderweitig beschäftigt. Er, Rodolfo und ihr Spezialtrupp treffen letzte Vorbereitungen. Rodolfo und seine Leute graben sich vom Hügelkamm aus nach unten und legen allem Anschein nach einen weiteren senkrechten Belüftungsschacht an. Wing und seine Leute sind direkt darunter und befassen sich mit einem komplizierten unterirdischen Rohrleitungsprojekt.
Goto Dengo hat vollkommen den Überblick darüber verloren, welcher Tag jeweils ist. Ungefähr vier Tage, nachdem die Lkws eingetroffen sind, bekommt er jedoch einen Hinweis. Die Filipinos fangen bei ihrer abendlichen Schale Reis spontan zu singen an. Die Melodie kommt Goto Dengo bekannt vor; in Schanghai hat er ab und zu gehört, wie die amerikanischen Marines sie sangen.
Wes’ Kind ist das,
Schläft ruhevoll
Auf seiner Mutter Schoß?
Den ganzen Abend lang singen die Filipinos dieses und andere Lieder, auf Englisch, Spanisch und Lateinisch. Sobald sie ihre Lungen frei gehustet haben, singen sie erstaunlich gut, zuweilen sogar zweiund dreistimmig. Anfangs juckt es Lieutenant Moris Wachen in den Abzugsfingern, weil sie glauben, es handele sich um ein Signal für einen Massenausbruch. Goto Dengo will sich seine Arbeit nicht durch ein Massaker zunichte machen lassen und erklärt ihnen deshalb, es sei etwas Religiöses, eine friedliche Feier.
Um Mitternacht an diesem Tag trifft abermals ein Lkw-Konvoi ein und die Arbeiter werden geweckt, um ihn zu entladen. Sie sind fröhlicher Stimmung, singen Weihnachtslieder und machen Scherze über den Weihnachtsmann.
Das ganze Lager ist bis weit nach Sonnenaufgang damit beschäftigt, Lkws zu entladen. Ohnehin ist Bundok allmählich zum Nachtort geworden, um dem Blick der Aufklärungsflugzeuge zu entgehen. Goto Dengo denkt gerade daran, sich schlafen zu legen, als oberhalb des Lagers, am Tojo, plötzlich eine Salve scharfer, knatternder Geräusche losbricht. Munition ist knapp, kaum jemand feuert noch eine Waffe ab und er erkennt das Geräusch des Nambu kaum wieder.
Dann springt er auf das Trittbrett eines Lkw und befiehlt dem Fahrer, flussaufwärts zu fahren. Das Schießen ist ebenso plötzlich verstummt, wie es angefangen hat. Unter den abgefahrenen Reifen des Lkw hat sich der Fluss trübe rot verfärbt.
Vor dem Eingang zu Golgatha liegen ungefähr zwei Dutzend Leichen im Flussbett. Um sie herum stehen, die Gewehre abgenommen, japanische Soldaten bis zu den Waden im roten Wasser. Ein Feldwebel geht mit einem Bajonett umher und stößt es den Filipinos, die sich noch rühren, in den Bauch.
»Was ist hier los?«, fragt Goto Dengo. Keiner gibt Antwort. Aber es erschießt ihn auch keiner; man lässt ihn selbst dahinter kommen.
Die Arbeiter waren offenbar dabei, einen kleinen Lkw zu entladen, der noch immer am Ende des Fahrweges steht. Unterhalb der Ladeklappe liegt eine Holzkiste, die anscheinend jemand fallen gelassen hat. Ihr schwerer Inhalt hat die Kiste gesprengt und sich über das unebene Gemenge aus Kieseln, gegossenem Beton und Haldenabfällen verteilt, die hier das Flussbett bilden.
Goto Dengo platscht näher heran und wirft einen Blick darauf. Er sieht es ganz deutlich, kann das Wissen aber irgendwie nicht in sich aufnehmen, bis er es mit den Händen spürt. Er bückt sich, schließt die Finger um einen kalten Klotz auf dem Grund des Flusses und lüpft ihn aus dem Wasser. Es ist ein glänzender Barren aus gelbem Metall, unglaublich schwer, mit eingeprägten, englischen Wörtern: BANK OF SINGAPORE.
Hinter ihm ist ein Handgemenge zu hören. Der Feldwebel hält sein Gewehr im Hüftanschlag, während zwei seiner Leute den philippinischen Fahrer aus der Kabine des Lkw zerren, mit dem Goto Dengo gekommen ist. In aller Ruhe – mit einem fast gelangweilten Gesichtsausdruck – ersticht der Feldwebel den Fahrer. Die Männer lassen ihn in das rote Wasser fallen und er verschwindet. »Fröhliche Weihnachten«, witzelt einer der Soldaten. Alles lacht, außer Goto Dengo.
IMPULS
Während Avi durch sein Haus zurückgeht, murmelt er etwas biblisch Klingendes auf Hebräisch, woraufhin seine Kinder in Tränen ausbrechen und seine Kindermädchen sich vom Spielteppich erheben und anfangen, Zeug in Taschen zu stopfen. Devorah kommt aus einem Hinterzimmer, wo sie ihre Morgenübelkeit ein bisschen ausgeschlafen hat. In der Diele umarmen sie und Avi sich liebevoll und Randy kommt sich allmählich vor wie ein Splitter in irgendjemandes Auge. Deshalb
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