Cryptonomicon
immer ausgedehntere Widerstandsnetz zunutze. Er wird um die Außenbezirke von Manila herum von einem Barangay zum nächsten weitergereicht, bis er die Küstenebene zwischen Laguna de Bay und Manila Bay erreicht hat. Ab jetzt gibt es nach Süden hin nur noch ein paar Meilen Reisfelder und danach die vulkanischen Berge, in denen sich die Altamiras als Guerillakämpfer einen Namen machen. Auf dem Weg hierher hat er tausend Gerüchte über sie gehört. Die meisten sind eindeutig falsch – die Leute erzählen ihm, was er offensichtlich hören will. Doch zuweilen hat er auch etwas gehört, was sich wie eine authentische Information über Glory ausnimmt.
Es heißt, sie habe einen gesunden kleinen Sohn, der in der Wohnung im Malate-Viertel von Manila wohne und von der Großfamilie versorgt werde, während seine Mutter im Krieg diene.
Sie bringe ihre Fertigkeiten als Krankenschwester zum Einsatz und fungiere als eine Art Florence Nightingale für die Huks.
Sie arbeite als Kurier für die fil-amerikanischen Streitkräfte und niemand übertreffe sie an Wagemut, wenn es darum gehe, mit geheimen Nachrichten oder anderer Konterbande japanische Kontrollpunkte zu passieren.
Letzteres ergibt für Shaftoe nicht viel Sinn. Was denn nun, Krankenschwester oder Kurier? Vielleicht verwechselt man sie mit jemand anderem. Vielleicht ist sie aber auch beides – vielleicht schmuggelt sie Medikamente durch die Kontrollpunkte.
Je weiter er nach Süden kommt, desto mehr Informationen bekommt er. Es werden immer wieder die gleichen Gerüchte und Anekdoten kolportiert und sie unterscheiden sich nur in unbedeutenden Details. Er läuft einem halben Dutzend Leute über den Weg, die sich absolut sicher sind, dass sich Glory südlich von hier aufhält und als Kurier für eine Brigade Huk-Guerilleros in den Bergen oberhalb von Calamba arbeitet.
Weihnachten verbringt er in einer Fischerhütte am Ufer des großen Sees, Laguna de Bay. Es gibt reichlich Moskitos. Dann erwischt ihn ein weiterer Malariaanfall; zwei Wochen lang wird er von Fieberdelirien gequält und hat bizarre Albträume von Glory.
Schließlich erholt er sich so weit, dass er weiterziehen kann, und lässt sich von einem Boot in die am Ufer gelegene Stadt Calamba mitnehmen. Die schwarzen Vulkane, die dahinter aufragen, sind ihm ein willkommener Anblick. Sie sehen schön kühl aus und erinnern ihn an das Land seiner Vorfahren. Der Familiensage zufolge verdingten sich die ersten Shaftoes, die nach Amerika kamen, als Kontraktarbeiter auf Tabak- und Baumwollfeldern und hoben, während sie sich in der Gluthitze bückten, oft sehnsüchtig den Blick zu jenen kühlen Bergen auf. Sie nutzten die erste Gelegenheit, sich davonzumachen, und zogen bergauf. Die Berge von Luzon locken Shaftoe auf die gleiche Weise – weg vom malariaverseuchten Flachland, hinauf zu Glory. Seine Reise ist fast zu Ende.
Aber in Calamba bleibt er hängen und ist gezwungen, sich in einem Bootshaus zu verkriechen, da sich die japanischen Luftwaffentruppen der Stadt zu irgendeiner Operation sammeln. Die Huks oben in den Bergen haben ihnen schwer zugesetzt, und die Nips sehen allmählich rot.
Der Anführer der örtlichen Huks schickt schließlich einen Emissär, bei dem Shaftoe seine Geschichte loswerden kann. Der Emissär geht und es verstreichen mehrere Tage. Schließlich kommt ein fil-amerikanischer Lieutenant, der zwei gute Nachrichten bringt: Die Amerikaner sind mit starken Kräften im Lingayen Gulf gelandet und Glory lebt und arbeitet nur ein paar Meilen entfernt bei den Huks.
»Helfen Sie mir, aus der Stadt rauszukommen«, fleht Shaftoe. »Bringen Sie mich in einem Boot über den See raus, setzen Sie mich irgendwo auf dem Land ab, von dort schaffe ich es dann schon.«
»Wohin?«, fragt der Lieutenant, der sich dumm stellt.
»Ins Hochland! Um mich den Huks anzuschließen!«
»Das würden Sie nicht überleben. Das Gelände ist vermint. Die Huks sind äußerst wachsam.«
»Aber -«
»Warum gehen Sie nicht in die andere Richtung?«, fragt der Lieutenant. »Gehen Sie nach Manila.«
»Was soll ich da?«
»Ihr Sohn ist dort. Und dort werden Sie gebraucht. Bald wird es in Manila zur großen Schlacht kommen.«
»Okay«, sagt Shaftoe. »Ich gehe nach Manila. Aber zuerst will ich Glory sehen.«
»Ah«, sagt der Lieutenant, als wäre es ihm endlich gedämmert. »Sie sagen, Sie wollen Glory sehen.«
»Ich sage das nicht bloß. Ich will Glory wirklich sehen.«
Der Lieutenant atmet eine Wolke von Zigarettenrauch aus
Weitere Kostenlose Bücher